kam, dazu hatte besonders ihrem eigenen Geständniß nach die Lectüre einer Predigtsammlung sie gebracht, deren Verfasser den Kampf mit dem Teufel zu seiner Hauptaufgabe gemacht hatte, welche auch der H. bei dem erwarteten baldigen Unter¬ gange der Welt die wichtigste sein mußte.
Ein solcher Seelenzustand, welcher alle Elemente eines naturgemäßen Wirkens ausschloß, mußte unaufhaltsam in sei¬ ner Entwickelung zu den heftigsten Ausbrüchen des Wahns fortschreiten. Zunächst leitete sich derselbe dadurch ein, daß die H. bei der anhaltenden Verfinsterung ihres religiösen Bewußt¬ seins und dem steten Schmerzgefühl eines zerquälten Gemüths selbst des früheren Trostes verlustig ging, den sie aus der Ueberzeugung schöpfte, daß sie durch eifrige Frömmigkeit den Zorn Gottes besänftigt habe. Es war schon wiederholt davon die Rede, daß ein leidenschaftlich erregtes religiöses Gefühl nur allzuleicht in Gewissenspein umschlägt, welches der H. um so mehr begegnen mußte, da sie schon in ihrer ersten Gemüths¬ krankheit sich für eine schwere Sünderin hielt. Sie wurde im Nov. 1844 still, tiefsinnig, theilnahmlos, äußerte, sie solle hin¬ gerichtet werden, weil sie sich gegen Gott versündigt habe. Zu Anfang des Decembers stellten sich häufige Anfälle von Tob¬ sucht ein, in denen sie unbändig schrie, auf keine Frage ant¬ wortete, auf keine Weise zu beruhigen war, weshalb sie am 3. December wieder in die Charite aufgenommen werden mußte. Hier erreichte ihre Tobsucht den höchsten Grad, und nöthigte sie zu einem lauten Schreien, sinnlosem Schwatzen und zu hef¬ tigen Bewegungen bei Tag und Nacht, so daß sie auf ihre Umgebungen gar keine Aufmerksamkeit richten konnte. Sie hielt sich für eine schwere Sünderin, welche von Gott zur ewigen Höllenstrafe verdammt sei, äußerte aber auch zwischendurch ero¬ tische Vorstellungen, in sofern sie den oben bezeichneten Pre¬ diger ehelichen zu wollen versicherte; denn derselbe sei ihr himm¬ lischer Bräutigam, und werde sie bald abholen. Oft brach sie unter heftigen Gesticulationen und entstellten Gebärden in den Angstruf aus: "ach Gott, was habe ich gethan!" Auch der alte Vergiftungswahn tauchte wieder auf, so daß sie hart¬ näckig Speisen und Arzneien verweigerte. Trank sie Wasser, so glaubte sie eine schwere Sünde begangen zu haben. Da¬
kam, dazu hatte beſonders ihrem eigenen Geſtaͤndniß nach die Lectuͤre einer Predigtſammlung ſie gebracht, deren Verfaſſer den Kampf mit dem Teufel zu ſeiner Hauptaufgabe gemacht hatte, welche auch der H. bei dem erwarteten baldigen Unter¬ gange der Welt die wichtigſte ſein mußte.
Ein ſolcher Seelenzuſtand, welcher alle Elemente eines naturgemaͤßen Wirkens ausſchloß, mußte unaufhaltſam in ſei¬ ner Entwickelung zu den heftigſten Ausbruͤchen des Wahns fortſchreiten. Zunaͤchſt leitete ſich derſelbe dadurch ein, daß die H. bei der anhaltenden Verfinſterung ihres religioͤſen Bewußt¬ ſeins und dem ſteten Schmerzgefuͤhl eines zerquaͤlten Gemuͤths ſelbſt des fruͤheren Troſtes verluſtig ging, den ſie aus der Ueberzeugung ſchoͤpfte, daß ſie durch eifrige Froͤmmigkeit den Zorn Gottes beſaͤnftigt habe. Es war ſchon wiederholt davon die Rede, daß ein leidenſchaftlich erregtes religioͤſes Gefuͤhl nur allzuleicht in Gewiſſenspein umſchlaͤgt, welches der H. um ſo mehr begegnen mußte, da ſie ſchon in ihrer erſten Gemuͤths¬ krankheit ſich fuͤr eine ſchwere Suͤnderin hielt. Sie wurde im Nov. 1844 ſtill, tiefſinnig, theilnahmlos, aͤußerte, ſie ſolle hin¬ gerichtet werden, weil ſie ſich gegen Gott verſuͤndigt habe. Zu Anfang des Decembers ſtellten ſich haͤufige Anfaͤlle von Tob¬ ſucht ein, in denen ſie unbaͤndig ſchrie, auf keine Frage ant¬ wortete, auf keine Weiſe zu beruhigen war, weshalb ſie am 3. December wieder in die Charité aufgenommen werden mußte. Hier erreichte ihre Tobſucht den hoͤchſten Grad, und noͤthigte ſie zu einem lauten Schreien, ſinnloſem Schwatzen und zu hef¬ tigen Bewegungen bei Tag und Nacht, ſo daß ſie auf ihre Umgebungen gar keine Aufmerkſamkeit richten konnte. Sie hielt ſich fuͤr eine ſchwere Suͤnderin, welche von Gott zur ewigen Hoͤllenſtrafe verdammt ſei, aͤußerte aber auch zwiſchendurch ero¬ tiſche Vorſtellungen, in ſofern ſie den oben bezeichneten Pre¬ diger ehelichen zu wollen verſicherte; denn derſelbe ſei ihr himm¬ liſcher Braͤutigam, und werde ſie bald abholen. Oft brach ſie unter heftigen Geſticulationen und entſtellten Gebaͤrden in den Angſtruf aus: „ach Gott, was habe ich gethan!” Auch der alte Vergiftungswahn tauchte wieder auf, ſo daß ſie hart¬ naͤckig Speiſen und Arzneien verweigerte. Trank ſie Waſſer, ſo glaubte ſie eine ſchwere Suͤnde begangen zu haben. Da¬
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kam, dazu hatte beſonders ihrem eigenen Geſtaͤndniß nach die
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den Kampf mit dem Teufel zu ſeiner Hauptaufgabe gemacht
hatte, welche auch der H. bei dem erwarteten baldigen Unter¬
gange der Welt die wichtigſte ſein mußte.
Ein ſolcher Seelenzuſtand, welcher alle Elemente eines
naturgemaͤßen Wirkens ausſchloß, mußte unaufhaltſam in ſei¬
ner Entwickelung zu den heftigſten Ausbruͤchen des Wahns
fortſchreiten. Zunaͤchſt leitete ſich derſelbe dadurch ein, daß die
H. bei der anhaltenden Verfinſterung ihres religioͤſen Bewußt¬
ſeins und dem ſteten Schmerzgefuͤhl eines zerquaͤlten Gemuͤths
ſelbſt des fruͤheren Troſtes verluſtig ging, den ſie aus der
Ueberzeugung ſchoͤpfte, daß ſie durch eifrige Froͤmmigkeit den
Zorn Gottes beſaͤnftigt habe. Es war ſchon wiederholt davon
die Rede, daß ein leidenſchaftlich erregtes religioͤſes Gefuͤhl nur
allzuleicht in Gewiſſenspein umſchlaͤgt, welches der H. um ſo
mehr begegnen mußte, da ſie ſchon in ihrer erſten Gemuͤths¬
krankheit ſich fuͤr eine ſchwere Suͤnderin hielt. Sie wurde im
Nov. 1844 ſtill, tiefſinnig, theilnahmlos, aͤußerte, ſie ſolle hin¬
gerichtet werden, weil ſie ſich gegen Gott verſuͤndigt habe. Zu
Anfang des Decembers ſtellten ſich haͤufige Anfaͤlle von Tob¬
ſucht ein, in denen ſie unbaͤndig ſchrie, auf keine Frage ant¬
wortete, auf keine Weiſe zu beruhigen war, weshalb ſie am
3. December wieder in die Charité aufgenommen werden mußte.
Hier erreichte ihre Tobſucht den hoͤchſten Grad, und noͤthigte
ſie zu einem lauten Schreien, ſinnloſem Schwatzen und zu hef¬
tigen Bewegungen bei Tag und Nacht, ſo daß ſie auf ihre
Umgebungen gar keine Aufmerkſamkeit richten konnte. Sie hielt
ſich fuͤr eine ſchwere Suͤnderin, welche von Gott zur ewigen
Hoͤllenſtrafe verdammt ſei, aͤußerte aber auch zwiſchendurch ero¬
tiſche Vorſtellungen, in ſofern ſie den oben bezeichneten Pre¬
diger ehelichen zu wollen verſicherte; denn derſelbe ſei ihr himm¬
liſcher Braͤutigam, und werde ſie bald abholen. Oft brach
ſie unter heftigen Geſticulationen und entſtellten Gebaͤrden in
den Angſtruf aus: „ach Gott, was habe ich gethan!” Auch
der alte Vergiftungswahn tauchte wieder auf, ſo daß ſie hart¬
naͤckig Speiſen und Arzneien verweigerte. Trank ſie Waſſer,
ſo glaubte ſie eine ſchwere Suͤnde begangen zu haben. Da¬
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/168>, abgerufen am 05.07.2024.
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