Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.kam, dazu hatte besonders ihrem eigenen Geständniß nach die Ein solcher Seelenzustand, welcher alle Elemente eines kam, dazu hatte beſonders ihrem eigenen Geſtaͤndniß nach die Ein ſolcher Seelenzuſtand, welcher alle Elemente eines <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0168" n="160"/> kam, dazu hatte beſonders ihrem eigenen Geſtaͤndniß nach die<lb/> Lectuͤre einer Predigtſammlung ſie gebracht, deren Verfaſſer<lb/> den Kampf mit dem Teufel zu ſeiner Hauptaufgabe gemacht<lb/> hatte, welche auch der H. bei dem erwarteten baldigen Unter¬<lb/> gange der Welt die wichtigſte ſein mußte.</p><lb/> <p>Ein ſolcher Seelenzuſtand, welcher alle Elemente eines<lb/> naturgemaͤßen Wirkens ausſchloß, mußte unaufhaltſam in ſei¬<lb/> ner Entwickelung zu den heftigſten Ausbruͤchen des Wahns<lb/> fortſchreiten. Zunaͤchſt leitete ſich derſelbe dadurch ein, daß die<lb/> H. bei der anhaltenden Verfinſterung ihres religioͤſen Bewußt¬<lb/> ſeins und dem ſteten Schmerzgefuͤhl eines zerquaͤlten Gemuͤths<lb/> ſelbſt des fruͤheren Troſtes verluſtig ging, den ſie aus der<lb/> Ueberzeugung ſchoͤpfte, daß ſie durch eifrige Froͤmmigkeit den<lb/> Zorn Gottes beſaͤnftigt habe. Es war ſchon wiederholt davon<lb/> die Rede, daß ein leidenſchaftlich erregtes religioͤſes Gefuͤhl nur<lb/> allzuleicht in Gewiſſenspein umſchlaͤgt, welches der H. um ſo<lb/> mehr begegnen mußte, da ſie ſchon in ihrer erſten Gemuͤths¬<lb/> krankheit ſich fuͤr eine ſchwere Suͤnderin hielt. Sie wurde im<lb/> Nov. 1844 ſtill, tiefſinnig, theilnahmlos, aͤußerte, ſie ſolle hin¬<lb/> gerichtet werden, weil ſie ſich gegen Gott verſuͤndigt habe. Zu<lb/> Anfang des Decembers ſtellten ſich haͤufige Anfaͤlle von Tob¬<lb/> ſucht ein, in denen ſie unbaͤndig ſchrie, auf keine Frage ant¬<lb/> wortete, auf keine Weiſe zu beruhigen war, weshalb ſie am<lb/> 3. December wieder in die Charité aufgenommen werden mußte.<lb/> Hier erreichte ihre Tobſucht den hoͤchſten Grad, und noͤthigte<lb/> ſie zu einem lauten Schreien, ſinnloſem Schwatzen und zu hef¬<lb/> tigen Bewegungen bei Tag und Nacht, ſo daß ſie auf ihre<lb/> Umgebungen gar keine Aufmerkſamkeit richten konnte. Sie hielt<lb/> ſich fuͤr eine ſchwere Suͤnderin, welche von Gott zur ewigen<lb/> Hoͤllenſtrafe verdammt ſei, aͤußerte aber auch zwiſchendurch ero¬<lb/> tiſche Vorſtellungen, in ſofern ſie den oben bezeichneten Pre¬<lb/> diger ehelichen zu wollen verſicherte; denn derſelbe ſei ihr himm¬<lb/> liſcher Braͤutigam, und werde ſie bald abholen. Oft brach<lb/> ſie unter heftigen Geſticulationen und entſtellten Gebaͤrden in<lb/> den Angſtruf aus: „ach Gott, was habe ich gethan!” Auch<lb/> der alte Vergiftungswahn tauchte wieder auf, ſo daß ſie hart¬<lb/> naͤckig Speiſen und Arzneien verweigerte. Trank ſie Waſſer,<lb/> ſo glaubte ſie eine ſchwere Suͤnde begangen zu haben. Da¬<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [160/0168]
kam, dazu hatte beſonders ihrem eigenen Geſtaͤndniß nach die
Lectuͤre einer Predigtſammlung ſie gebracht, deren Verfaſſer
den Kampf mit dem Teufel zu ſeiner Hauptaufgabe gemacht
hatte, welche auch der H. bei dem erwarteten baldigen Unter¬
gange der Welt die wichtigſte ſein mußte.
Ein ſolcher Seelenzuſtand, welcher alle Elemente eines
naturgemaͤßen Wirkens ausſchloß, mußte unaufhaltſam in ſei¬
ner Entwickelung zu den heftigſten Ausbruͤchen des Wahns
fortſchreiten. Zunaͤchſt leitete ſich derſelbe dadurch ein, daß die
H. bei der anhaltenden Verfinſterung ihres religioͤſen Bewußt¬
ſeins und dem ſteten Schmerzgefuͤhl eines zerquaͤlten Gemuͤths
ſelbſt des fruͤheren Troſtes verluſtig ging, den ſie aus der
Ueberzeugung ſchoͤpfte, daß ſie durch eifrige Froͤmmigkeit den
Zorn Gottes beſaͤnftigt habe. Es war ſchon wiederholt davon
die Rede, daß ein leidenſchaftlich erregtes religioͤſes Gefuͤhl nur
allzuleicht in Gewiſſenspein umſchlaͤgt, welches der H. um ſo
mehr begegnen mußte, da ſie ſchon in ihrer erſten Gemuͤths¬
krankheit ſich fuͤr eine ſchwere Suͤnderin hielt. Sie wurde im
Nov. 1844 ſtill, tiefſinnig, theilnahmlos, aͤußerte, ſie ſolle hin¬
gerichtet werden, weil ſie ſich gegen Gott verſuͤndigt habe. Zu
Anfang des Decembers ſtellten ſich haͤufige Anfaͤlle von Tob¬
ſucht ein, in denen ſie unbaͤndig ſchrie, auf keine Frage ant¬
wortete, auf keine Weiſe zu beruhigen war, weshalb ſie am
3. December wieder in die Charité aufgenommen werden mußte.
Hier erreichte ihre Tobſucht den hoͤchſten Grad, und noͤthigte
ſie zu einem lauten Schreien, ſinnloſem Schwatzen und zu hef¬
tigen Bewegungen bei Tag und Nacht, ſo daß ſie auf ihre
Umgebungen gar keine Aufmerkſamkeit richten konnte. Sie hielt
ſich fuͤr eine ſchwere Suͤnderin, welche von Gott zur ewigen
Hoͤllenſtrafe verdammt ſei, aͤußerte aber auch zwiſchendurch ero¬
tiſche Vorſtellungen, in ſofern ſie den oben bezeichneten Pre¬
diger ehelichen zu wollen verſicherte; denn derſelbe ſei ihr himm¬
liſcher Braͤutigam, und werde ſie bald abholen. Oft brach
ſie unter heftigen Geſticulationen und entſtellten Gebaͤrden in
den Angſtruf aus: „ach Gott, was habe ich gethan!” Auch
der alte Vergiftungswahn tauchte wieder auf, ſo daß ſie hart¬
naͤckig Speiſen und Arzneien verweigerte. Trank ſie Waſſer,
ſo glaubte ſie eine ſchwere Suͤnde begangen zu haben. Da¬
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