weil diese nur aus der gemeinsamen Pflege aller natürlichen Neigungen oder Triebe entstehen kann. Man braucht sich nur die nothwendigen Wirkungen der einzelnen Leidenschaften, z. B. des Ehrgeizes, der Herrsch- und Habsucht, der übermä¬ ßigen Geschlechtsliebe u. s. w. lebhaft zu vergegenwärtigen, um sich davon zu überzeugen, daß sie Geist und Gemüth despotisch beherrschend ihre verderblichen Folgen durch Unter¬ drückung der ihnen widerstrebenden Neigungen hervorbringen.
In den Leidenschaften hat sich daher das Gesammtstre¬ ben der Seele in einer einzigen Neigung concentrirt, welche nun den überschwenglichen Charakter derselben am deutlichsten zur Schau trägt, während bei der ganz naturgemäßen Ge¬ müthsverfassung die im Gleichgewichte stehenden Neigungen sich gegenseitig beschränken, mäßigen, und dadurch ihrem übereil¬ ten Wirken vorbeugen. Also indem die Leidenschaft alle Zügel von sich wirft, welche die übrigen Gemüthsinteressen ihr an¬ legen sollten, artet ihr Drang sogleich ins Maaßlose aus, so daß derselbe in jeder theilweisen Befriedigung nur den Zun¬ der zu einer noch größeren Flamme der Begierden findet, etwa wie der Weinerregte immer durstiger wird, je mehr Wein er trinkt. Nur deshalb, weil die Leidenschaft sich noch mit einem hinreichenden Grade von Besonnenheit oder objectivem Verstandesgebrauch paart, weil sie der Nothwendigkeit einer richtigen Berechnung ihres Verhältnisses zur Außenwelt behufs der Erfüllung ihrer Zwecke eingedenk bleibt, erhält sie sich auch im fortwährenden Zusammenhange mit derselben; der von ihr Beherrschte ist noch ein Bürger der wirklichen Welt, ihren Gesetzen unterthan, weil er es recht gut weiß, daß ihre Ueber¬ tretung ihn ins Verderben stürzen muß. Ja er erkennt es, daß der praktische Verstandesgebrauch recht eigentlich das Mit¬ tel ist, seine Zwecke in weitester Ausdehnung zu erfüllen, da¬ her denn die ächte Leidenschaft sich mit einem hohen Grade von Weltklugheit paart, und in der Geistesbildung eine große Mei¬ sterschaft erreichen würde, wenn nicht ihre verwerflichen Zwecke im absoluten Gegensatze mit den Vernunftbegriffen ständen, dadurch dem gesammten Denken einen unvertilgbaren Wider¬ spruch einimpften, welcher selbst von der dialektischen Virtuosität der leidenschaftlichen Sophistik nicht ganz verdeckt werden kann.
weil dieſe nur aus der gemeinſamen Pflege aller natuͤrlichen Neigungen oder Triebe entſtehen kann. Man braucht ſich nur die nothwendigen Wirkungen der einzelnen Leidenſchaften, z. B. des Ehrgeizes, der Herrſch- und Habſucht, der uͤbermaͤ¬ ßigen Geſchlechtsliebe u. ſ. w. lebhaft zu vergegenwaͤrtigen, um ſich davon zu uͤberzeugen, daß ſie Geiſt und Gemuͤth despotiſch beherrſchend ihre verderblichen Folgen durch Unter¬ druͤckung der ihnen widerſtrebenden Neigungen hervorbringen.
In den Leidenſchaften hat ſich daher das Geſammtſtre¬ ben der Seele in einer einzigen Neigung concentrirt, welche nun den uͤberſchwenglichen Charakter derſelben am deutlichſten zur Schau traͤgt, waͤhrend bei der ganz naturgemaͤßen Ge¬ muͤthsverfaſſung die im Gleichgewichte ſtehenden Neigungen ſich gegenſeitig beſchraͤnken, maͤßigen, und dadurch ihrem uͤbereil¬ ten Wirken vorbeugen. Alſo indem die Leidenſchaft alle Zuͤgel von ſich wirft, welche die uͤbrigen Gemuͤthsintereſſen ihr an¬ legen ſollten, artet ihr Drang ſogleich ins Maaßloſe aus, ſo daß derſelbe in jeder theilweiſen Befriedigung nur den Zun¬ der zu einer noch groͤßeren Flamme der Begierden findet, etwa wie der Weinerregte immer durſtiger wird, je mehr Wein er trinkt. Nur deshalb, weil die Leidenſchaft ſich noch mit einem hinreichenden Grade von Beſonnenheit oder objectivem Verſtandesgebrauch paart, weil ſie der Nothwendigkeit einer richtigen Berechnung ihres Verhaͤltniſſes zur Außenwelt behufs der Erfuͤllung ihrer Zwecke eingedenk bleibt, erhaͤlt ſie ſich auch im fortwaͤhrenden Zuſammenhange mit derſelben; der von ihr Beherrſchte iſt noch ein Buͤrger der wirklichen Welt, ihren Geſetzen unterthan, weil er es recht gut weiß, daß ihre Ueber¬ tretung ihn ins Verderben ſtuͤrzen muß. Ja er erkennt es, daß der praktiſche Verſtandesgebrauch recht eigentlich das Mit¬ tel iſt, ſeine Zwecke in weiteſter Ausdehnung zu erfuͤllen, da¬ her denn die aͤchte Leidenſchaft ſich mit einem hohen Grade von Weltklugheit paart, und in der Geiſtesbildung eine große Mei¬ ſterſchaft erreichen wuͤrde, wenn nicht ihre verwerflichen Zwecke im abſoluten Gegenſatze mit den Vernunftbegriffen ſtaͤnden, dadurch dem geſammten Denken einen unvertilgbaren Wider¬ ſpruch einimpften, welcher ſelbſt von der dialektiſchen Virtuoſitaͤt der leidenſchaftlichen Sophiſtik nicht ganz verdeckt werden kann.
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[7/0015]
weil dieſe nur aus der gemeinſamen Pflege aller natuͤrlichen
Neigungen oder Triebe entſtehen kann. Man braucht ſich nur
die nothwendigen Wirkungen der einzelnen Leidenſchaften,
z. B. des Ehrgeizes, der Herrſch- und Habſucht, der uͤbermaͤ¬
ßigen Geſchlechtsliebe u. ſ. w. lebhaft zu vergegenwaͤrtigen,
um ſich davon zu uͤberzeugen, daß ſie Geiſt und Gemuͤth
despotiſch beherrſchend ihre verderblichen Folgen durch Unter¬
druͤckung der ihnen widerſtrebenden Neigungen hervorbringen.
In den Leidenſchaften hat ſich daher das Geſammtſtre¬
ben der Seele in einer einzigen Neigung concentrirt, welche
nun den uͤberſchwenglichen Charakter derſelben am deutlichſten
zur Schau traͤgt, waͤhrend bei der ganz naturgemaͤßen Ge¬
muͤthsverfaſſung die im Gleichgewichte ſtehenden Neigungen ſich
gegenſeitig beſchraͤnken, maͤßigen, und dadurch ihrem uͤbereil¬
ten Wirken vorbeugen. Alſo indem die Leidenſchaft alle Zuͤgel
von ſich wirft, welche die uͤbrigen Gemuͤthsintereſſen ihr an¬
legen ſollten, artet ihr Drang ſogleich ins Maaßloſe aus, ſo
daß derſelbe in jeder theilweiſen Befriedigung nur den Zun¬
der zu einer noch groͤßeren Flamme der Begierden findet,
etwa wie der Weinerregte immer durſtiger wird, je mehr Wein
er trinkt. Nur deshalb, weil die Leidenſchaft ſich noch mit
einem hinreichenden Grade von Beſonnenheit oder objectivem
Verſtandesgebrauch paart, weil ſie der Nothwendigkeit einer
richtigen Berechnung ihres Verhaͤltniſſes zur Außenwelt behufs
der Erfuͤllung ihrer Zwecke eingedenk bleibt, erhaͤlt ſie ſich auch
im fortwaͤhrenden Zuſammenhange mit derſelben; der von ihr
Beherrſchte iſt noch ein Buͤrger der wirklichen Welt, ihren
Geſetzen unterthan, weil er es recht gut weiß, daß ihre Ueber¬
tretung ihn ins Verderben ſtuͤrzen muß. Ja er erkennt es,
daß der praktiſche Verſtandesgebrauch recht eigentlich das Mit¬
tel iſt, ſeine Zwecke in weiteſter Ausdehnung zu erfuͤllen, da¬
her denn die aͤchte Leidenſchaft ſich mit einem hohen Grade von
Weltklugheit paart, und in der Geiſtesbildung eine große Mei¬
ſterſchaft erreichen wuͤrde, wenn nicht ihre verwerflichen Zwecke
im abſoluten Gegenſatze mit den Vernunftbegriffen ſtaͤnden,
dadurch dem geſammten Denken einen unvertilgbaren Wider¬
ſpruch einimpften, welcher ſelbſt von der dialektiſchen Virtuoſitaͤt
der leidenſchaftlichen Sophiſtik nicht ganz verdeckt werden kann.
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/15>, abgerufen am 05.07.2024.
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