ser zu stürzen. Dieser schreckliche Auftritt wiederholte sich in ihrer Wohnung mehrmals, nur mit Mühe konnte sie ins Bette zurückgebracht werden, indem sie schrie, Gott habe es ihr be¬ fohlen, sie müsse gehorchen. Da sie zugleich mit dem Wahn behaftet war, daß ihre Angst durch Gift veranlaßt worden sei, welches man ihr in der Arznei reiche, und sie dieselbe jedesmal zurückschlug; so wurde ihre Aufnahme in die Charite noth¬ wendig.
Hier saß sie tagelang am Fenster und starrte unbeweglich hinaus, indem sie wehklagte, daß ihr Kind in die Kirche ge¬ bracht werden solle, um daselbst für die Sünden der Welt von einem Geistlichen geopfert zu werden, welches aber während des Sonnenscheins geschehen müsse, da nach dem Untergange der Sonne das Opfer seine Kraft verlieren werde. In einer Nacht sah sie noch einmal den Himmel offen, aus welchem Chöre von Seeligen, zu denen auch sie zu gehören glaubte, zu ihr herabschwebten. Ein anderes Mal sah sie Gott wie¬ der als flammendes Sonnengesicht, welches der Teufel an der Nase faßte und zur Erde herabzog, um mit ihm um die Herr¬ schaft der Welt einen Kampf anzufangen, dessen Ende sie nicht sah, wobei sie indeß eine große Angst empfand. Die An¬ wendung lauwarmer Bäder mit kalten Uebergießungen über den Kopf nebst gelinden Abführungen brachte nur in so¬ fern eine günstige Wirkung hervor, als sie allmählig, des Nachts einen ruhigeren Schlaf erlangte, und auch am Tage nicht mehr eine so heftige Aufregung wahrnehmen ließ. Indeß bis zu Ende des Octobers trat in ihren Wahnvorstellungen keine wesentliche Veränderung ein, vielmehr war ihr Bewußt¬ sein so gänzlich erfüllt von der Vorstellung, ihr Kind müsse beim Schein der Sonne, in welcher sie die Anwesenheit Got¬ tes wahrzunehmen glaubte, von einem Priester als einem Ge¬ weihten der Kirche zur Sühne für die Sünden der Menschen geopfert werden, wenn nicht alle bei lebendem Leibe verfaulen sollten, daß sie auf gar kein anderes Gespräch sich einließ, son¬ dern mit dem Ausdruck tiefer Angst am Fenster saß, und re¬ gungslos hinausstierte. Nur darin war sie mit sich uneins, daß sie bald von Gott, bald vom Teufel die Aufforderung zu einer so schrecklichen That durch den Zuruf von Stimmen er¬
ſer zu ſtuͤrzen. Dieſer ſchreckliche Auftritt wiederholte ſich in ihrer Wohnung mehrmals, nur mit Muͤhe konnte ſie ins Bette zuruͤckgebracht werden, indem ſie ſchrie, Gott habe es ihr be¬ fohlen, ſie muͤſſe gehorchen. Da ſie zugleich mit dem Wahn behaftet war, daß ihre Angſt durch Gift veranlaßt worden ſei, welches man ihr in der Arznei reiche, und ſie dieſelbe jedesmal zuruͤckſchlug; ſo wurde ihre Aufnahme in die Charité noth¬ wendig.
Hier ſaß ſie tagelang am Fenſter und ſtarrte unbeweglich hinaus, indem ſie wehklagte, daß ihr Kind in die Kirche ge¬ bracht werden ſolle, um daſelbſt fuͤr die Suͤnden der Welt von einem Geiſtlichen geopfert zu werden, welches aber waͤhrend des Sonnenſcheins geſchehen muͤſſe, da nach dem Untergange der Sonne das Opfer ſeine Kraft verlieren werde. In einer Nacht ſah ſie noch einmal den Himmel offen, aus welchem Choͤre von Seeligen, zu denen auch ſie zu gehoͤren glaubte, zu ihr herabſchwebten. Ein anderes Mal ſah ſie Gott wie¬ der als flammendes Sonnengeſicht, welches der Teufel an der Naſe faßte und zur Erde herabzog, um mit ihm um die Herr¬ ſchaft der Welt einen Kampf anzufangen, deſſen Ende ſie nicht ſah, wobei ſie indeß eine große Angſt empfand. Die An¬ wendung lauwarmer Baͤder mit kalten Uebergießungen uͤber den Kopf nebſt gelinden Abfuͤhrungen brachte nur in ſo¬ fern eine guͤnſtige Wirkung hervor, als ſie allmaͤhlig, des Nachts einen ruhigeren Schlaf erlangte, und auch am Tage nicht mehr eine ſo heftige Aufregung wahrnehmen ließ. Indeß bis zu Ende des Octobers trat in ihren Wahnvorſtellungen keine weſentliche Veraͤnderung ein, vielmehr war ihr Bewußt¬ ſein ſo gaͤnzlich erfuͤllt von der Vorſtellung, ihr Kind muͤſſe beim Schein der Sonne, in welcher ſie die Anweſenheit Got¬ tes wahrzunehmen glaubte, von einem Prieſter als einem Ge¬ weihten der Kirche zur Suͤhne fuͤr die Suͤnden der Menſchen geopfert werden, wenn nicht alle bei lebendem Leibe verfaulen ſollten, daß ſie auf gar kein anderes Geſpraͤch ſich einließ, ſon¬ dern mit dem Ausdruck tiefer Angſt am Fenſter ſaß, und re¬ gungslos hinausſtierte. Nur darin war ſie mit ſich uneins, daß ſie bald von Gott, bald vom Teufel die Aufforderung zu einer ſo ſchrecklichen That durch den Zuruf von Stimmen er¬
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ſer zu ſtuͤrzen. Dieſer ſchreckliche Auftritt wiederholte ſich in
ihrer Wohnung mehrmals, nur mit Muͤhe konnte ſie ins Bette
zuruͤckgebracht werden, indem ſie ſchrie, Gott habe es ihr be¬
fohlen, ſie muͤſſe gehorchen. Da ſie zugleich mit dem Wahn
behaftet war, daß ihre Angſt durch Gift veranlaßt worden ſei,
welches man ihr in der Arznei reiche, und ſie dieſelbe jedesmal
zuruͤckſchlug; ſo wurde ihre Aufnahme in die Charité noth¬
wendig.
Hier ſaß ſie tagelang am Fenſter und ſtarrte unbeweglich
hinaus, indem ſie wehklagte, daß ihr Kind in die Kirche ge¬
bracht werden ſolle, um daſelbſt fuͤr die Suͤnden der Welt von
einem Geiſtlichen geopfert zu werden, welches aber waͤhrend
des Sonnenſcheins geſchehen muͤſſe, da nach dem Untergange
der Sonne das Opfer ſeine Kraft verlieren werde. In einer
Nacht ſah ſie noch einmal den Himmel offen, aus welchem
Choͤre von Seeligen, zu denen auch ſie zu gehoͤren glaubte,
zu ihr herabſchwebten. Ein anderes Mal ſah ſie Gott wie¬
der als flammendes Sonnengeſicht, welches der Teufel an der
Naſe faßte und zur Erde herabzog, um mit ihm um die Herr¬
ſchaft der Welt einen Kampf anzufangen, deſſen Ende ſie nicht
ſah, wobei ſie indeß eine große Angſt empfand. Die An¬
wendung lauwarmer Baͤder mit kalten Uebergießungen uͤber
den Kopf nebſt gelinden Abfuͤhrungen brachte nur in ſo¬
fern eine guͤnſtige Wirkung hervor, als ſie allmaͤhlig, des
Nachts einen ruhigeren Schlaf erlangte, und auch am Tage
nicht mehr eine ſo heftige Aufregung wahrnehmen ließ. Indeß
bis zu Ende des Octobers trat in ihren Wahnvorſtellungen
keine weſentliche Veraͤnderung ein, vielmehr war ihr Bewußt¬
ſein ſo gaͤnzlich erfuͤllt von der Vorſtellung, ihr Kind muͤſſe
beim Schein der Sonne, in welcher ſie die Anweſenheit Got¬
tes wahrzunehmen glaubte, von einem Prieſter als einem Ge¬
weihten der Kirche zur Suͤhne fuͤr die Suͤnden der Menſchen
geopfert werden, wenn nicht alle bei lebendem Leibe verfaulen
ſollten, daß ſie auf gar kein anderes Geſpraͤch ſich einließ, ſon¬
dern mit dem Ausdruck tiefer Angſt am Fenſter ſaß, und re¬
gungslos hinausſtierte. Nur darin war ſie mit ſich uneins,
daß ſie bald von Gott, bald vom Teufel die Aufforderung zu
einer ſo ſchrecklichen That durch den Zuruf von Stimmen er¬
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/142>, abgerufen am 16.02.2025.
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