Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

liche Selbstanklage aussprach, so erhellt daraus, daß jene Nei¬
gung tiefe Wurzel in ihrem Herzen geschlagen hatte, und wer
mag berechnen, wie ein geheimer Widerstreit in ihrem Innern,
ihr halb unbewußt, ihre Ruhe untergraben, und zur bösen
Stunde dazu beigetragen hat, die Entzweiung ihres Gemüths
zum vollen Ausbruch zu bringen? Indeß sie wurde durch
häusliche Geschäfte zu sehr in Anspruch genommen, als daß
sie sich ihrem Kummer hätte hingeben können.

Etwa anderthalb Jahre nach dem Tode des Kindes wurde
sie zum zweitenmal schwanger, und auch diesmal erfreute sie
sich ihrer vollen Gesundheit, so daß sie selbst an der beschwer¬
lichen Arbeit des Polierens der Möbel fortgesetzt Theil neh¬
men konnte. Die Hoffnung neuer Mutterfreuden stillte
allmählig ihren Gram, und da keine Sorge und Bedrängniß
sie traf, so lebte sie meist in heiterer Zufriedenheit, welche nur
dadurch etwas getrübt wurde, daß ihr hochbejahrter Vater aus
Mangel an eigener Arbeit genöthigt wurde, ihrem Ehemanne
bei manchen Geschäften behülflich zu sein, und dadurch von
ihm abhängig wurde. Ihre Entbindung erfolgte zu Ende
Augusts 1845 ganz glücklich, und mit innigster Liebe widmete
sie sich der Pflege ihres ganz gesunden Kindes, dem sie an ihrer
Brust eine reichliche Nahrung bieten konnte. Die erste Zeit
des Wochenbettes verlief ohne die geringste Störung, so daß
sie am 8. Tage ihr Lager verlassen, und die häuslichen Ge¬
schäfte wieder verrichten konnte. Indeß ihre kalte, dem Zug¬
winde ausgesetzte Küche gab Veranlassung, daß sie sich mehr¬
mals stark erkältete, so daß ihr die Beine vor Frost beinahe
erstarrten. Mit jedem Tage fühlte sie sich unwohler, sie verlor
ihren guten Appetit, klagte über Zerschlagenheit, Wüstheit
und Verwirrung im Kopfe, Angst, häufiges Frösteln, auf
welches zumal in der Nacht eine lebhafte Hitze folgte, wodurch
ihr der Schlaf geraubt wurde. Als sie in diesem krankhaft
erregten Zustande an einem Tage vor dem Thore spazieren
ging, wurde sie von einem Schwindel befallen, so daß ihr alle
Gegenstände zu schwanken schienen, und sie dadurch in eine
peinliche Spannung versetzt wurde. Die gleichzeitig empfun¬
dene Wüstheit in ihrem Kopfe deutete noch mehr auf eine
krankhafte Erregung ihres Nervensystems hin, und hieraus

liche Selbſtanklage ausſprach, ſo erhellt daraus, daß jene Nei¬
gung tiefe Wurzel in ihrem Herzen geſchlagen hatte, und wer
mag berechnen, wie ein geheimer Widerſtreit in ihrem Innern,
ihr halb unbewußt, ihre Ruhe untergraben, und zur boͤſen
Stunde dazu beigetragen hat, die Entzweiung ihres Gemuͤths
zum vollen Ausbruch zu bringen? Indeß ſie wurde durch
haͤusliche Geſchaͤfte zu ſehr in Anſpruch genommen, als daß
ſie ſich ihrem Kummer haͤtte hingeben koͤnnen.

Etwa anderthalb Jahre nach dem Tode des Kindes wurde
ſie zum zweitenmal ſchwanger, und auch diesmal erfreute ſie
ſich ihrer vollen Geſundheit, ſo daß ſie ſelbſt an der beſchwer¬
lichen Arbeit des Polierens der Moͤbel fortgeſetzt Theil neh¬
men konnte. Die Hoffnung neuer Mutterfreuden ſtillte
allmaͤhlig ihren Gram, und da keine Sorge und Bedraͤngniß
ſie traf, ſo lebte ſie meiſt in heiterer Zufriedenheit, welche nur
dadurch etwas getruͤbt wurde, daß ihr hochbejahrter Vater aus
Mangel an eigener Arbeit genoͤthigt wurde, ihrem Ehemanne
bei manchen Geſchaͤften behuͤlflich zu ſein, und dadurch von
ihm abhaͤngig wurde. Ihre Entbindung erfolgte zu Ende
Auguſts 1845 ganz gluͤcklich, und mit innigſter Liebe widmete
ſie ſich der Pflege ihres ganz geſunden Kindes, dem ſie an ihrer
Bruſt eine reichliche Nahrung bieten konnte. Die erſte Zeit
des Wochenbettes verlief ohne die geringſte Stoͤrung, ſo daß
ſie am 8. Tage ihr Lager verlaſſen, und die haͤuslichen Ge¬
ſchaͤfte wieder verrichten konnte. Indeß ihre kalte, dem Zug¬
winde ausgeſetzte Kuͤche gab Veranlaſſung, daß ſie ſich mehr¬
mals ſtark erkaͤltete, ſo daß ihr die Beine vor Froſt beinahe
erſtarrten. Mit jedem Tage fuͤhlte ſie ſich unwohler, ſie verlor
ihren guten Appetit, klagte uͤber Zerſchlagenheit, Wuͤſtheit
und Verwirrung im Kopfe, Angſt, haͤufiges Froͤſteln, auf
welches zumal in der Nacht eine lebhafte Hitze folgte, wodurch
ihr der Schlaf geraubt wurde. Als ſie in dieſem krankhaft
erregten Zuſtande an einem Tage vor dem Thore ſpazieren
ging, wurde ſie von einem Schwindel befallen, ſo daß ihr alle
Gegenſtaͤnde zu ſchwanken ſchienen, und ſie dadurch in eine
peinliche Spannung verſetzt wurde. Die gleichzeitig empfun¬
dene Wuͤſtheit in ihrem Kopfe deutete noch mehr auf eine
krankhafte Erregung ihres Nervenſyſtems hin, und hieraus

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0138" n="130"/>
liche Selb&#x017F;tanklage aus&#x017F;prach, &#x017F;o erhellt daraus, daß jene Nei¬<lb/>
gung tiefe Wurzel in ihrem Herzen ge&#x017F;chlagen hatte, und wer<lb/>
mag berechnen, wie ein geheimer Wider&#x017F;treit in ihrem Innern,<lb/>
ihr halb unbewußt, ihre Ruhe untergraben, und zur bo&#x0364;&#x017F;en<lb/>
Stunde dazu beigetragen hat, die Entzweiung ihres Gemu&#x0364;ths<lb/>
zum vollen Ausbruch zu bringen? Indeß &#x017F;ie wurde durch<lb/>
ha&#x0364;usliche Ge&#x017F;cha&#x0364;fte zu &#x017F;ehr in An&#x017F;pruch genommen, als daß<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich ihrem Kummer ha&#x0364;tte hingeben ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
        <p>Etwa anderthalb Jahre nach dem Tode des Kindes wurde<lb/>
&#x017F;ie zum zweitenmal &#x017F;chwanger, und auch diesmal erfreute &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;ich ihrer vollen Ge&#x017F;undheit, &#x017F;o daß &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t an der be&#x017F;chwer¬<lb/>
lichen Arbeit des Polierens der Mo&#x0364;bel fortge&#x017F;etzt Theil neh¬<lb/>
men konnte. Die Hoffnung neuer Mutterfreuden &#x017F;tillte<lb/>
allma&#x0364;hlig ihren Gram, und da keine Sorge und Bedra&#x0364;ngniß<lb/>
&#x017F;ie traf, &#x017F;o lebte &#x017F;ie mei&#x017F;t in heiterer Zufriedenheit, welche nur<lb/>
dadurch etwas getru&#x0364;bt wurde, daß ihr hochbejahrter Vater aus<lb/>
Mangel an eigener Arbeit geno&#x0364;thigt wurde, ihrem Ehemanne<lb/>
bei manchen Ge&#x017F;cha&#x0364;ften behu&#x0364;lflich zu &#x017F;ein, und dadurch von<lb/>
ihm abha&#x0364;ngig wurde. Ihre Entbindung erfolgte zu Ende<lb/>
Augu&#x017F;ts 1845 ganz glu&#x0364;cklich, und mit innig&#x017F;ter Liebe widmete<lb/>
&#x017F;ie &#x017F;ich der Pflege ihres ganz ge&#x017F;unden Kindes, dem &#x017F;ie an ihrer<lb/>
Bru&#x017F;t eine reichliche Nahrung bieten konnte. Die er&#x017F;te Zeit<lb/>
des Wochenbettes verlief ohne die gering&#x017F;te Sto&#x0364;rung, &#x017F;o daß<lb/>
&#x017F;ie am 8. Tage ihr Lager verla&#x017F;&#x017F;en, und die ha&#x0364;uslichen Ge¬<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;fte wieder verrichten konnte. Indeß ihre kalte, dem Zug¬<lb/>
winde ausge&#x017F;etzte Ku&#x0364;che gab Veranla&#x017F;&#x017F;ung, daß &#x017F;ie &#x017F;ich mehr¬<lb/>
mals &#x017F;tark erka&#x0364;ltete, &#x017F;o daß ihr die Beine vor Fro&#x017F;t beinahe<lb/>
er&#x017F;tarrten. Mit jedem Tage fu&#x0364;hlte &#x017F;ie &#x017F;ich unwohler, &#x017F;ie verlor<lb/>
ihren guten Appetit, klagte u&#x0364;ber Zer&#x017F;chlagenheit, Wu&#x0364;&#x017F;theit<lb/>
und Verwirrung im Kopfe, Ang&#x017F;t, ha&#x0364;ufiges Fro&#x0364;&#x017F;teln, auf<lb/>
welches zumal in der Nacht eine lebhafte Hitze folgte, wodurch<lb/>
ihr der Schlaf geraubt wurde. Als &#x017F;ie in die&#x017F;em krankhaft<lb/>
erregten Zu&#x017F;tande an einem Tage vor dem Thore &#x017F;pazieren<lb/>
ging, wurde &#x017F;ie von einem Schwindel befallen, &#x017F;o daß ihr alle<lb/>
Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde zu &#x017F;chwanken &#x017F;chienen, und &#x017F;ie dadurch in eine<lb/>
peinliche Spannung ver&#x017F;etzt wurde. Die gleichzeitig empfun¬<lb/>
dene Wu&#x0364;&#x017F;theit in ihrem Kopfe deutete noch mehr auf eine<lb/>
krankhafte Erregung ihres Nerven&#x017F;y&#x017F;tems hin, und hieraus<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[130/0138] liche Selbſtanklage ausſprach, ſo erhellt daraus, daß jene Nei¬ gung tiefe Wurzel in ihrem Herzen geſchlagen hatte, und wer mag berechnen, wie ein geheimer Widerſtreit in ihrem Innern, ihr halb unbewußt, ihre Ruhe untergraben, und zur boͤſen Stunde dazu beigetragen hat, die Entzweiung ihres Gemuͤths zum vollen Ausbruch zu bringen? Indeß ſie wurde durch haͤusliche Geſchaͤfte zu ſehr in Anſpruch genommen, als daß ſie ſich ihrem Kummer haͤtte hingeben koͤnnen. Etwa anderthalb Jahre nach dem Tode des Kindes wurde ſie zum zweitenmal ſchwanger, und auch diesmal erfreute ſie ſich ihrer vollen Geſundheit, ſo daß ſie ſelbſt an der beſchwer¬ lichen Arbeit des Polierens der Moͤbel fortgeſetzt Theil neh¬ men konnte. Die Hoffnung neuer Mutterfreuden ſtillte allmaͤhlig ihren Gram, und da keine Sorge und Bedraͤngniß ſie traf, ſo lebte ſie meiſt in heiterer Zufriedenheit, welche nur dadurch etwas getruͤbt wurde, daß ihr hochbejahrter Vater aus Mangel an eigener Arbeit genoͤthigt wurde, ihrem Ehemanne bei manchen Geſchaͤften behuͤlflich zu ſein, und dadurch von ihm abhaͤngig wurde. Ihre Entbindung erfolgte zu Ende Auguſts 1845 ganz gluͤcklich, und mit innigſter Liebe widmete ſie ſich der Pflege ihres ganz geſunden Kindes, dem ſie an ihrer Bruſt eine reichliche Nahrung bieten konnte. Die erſte Zeit des Wochenbettes verlief ohne die geringſte Stoͤrung, ſo daß ſie am 8. Tage ihr Lager verlaſſen, und die haͤuslichen Ge¬ ſchaͤfte wieder verrichten konnte. Indeß ihre kalte, dem Zug¬ winde ausgeſetzte Kuͤche gab Veranlaſſung, daß ſie ſich mehr¬ mals ſtark erkaͤltete, ſo daß ihr die Beine vor Froſt beinahe erſtarrten. Mit jedem Tage fuͤhlte ſie ſich unwohler, ſie verlor ihren guten Appetit, klagte uͤber Zerſchlagenheit, Wuͤſtheit und Verwirrung im Kopfe, Angſt, haͤufiges Froͤſteln, auf welches zumal in der Nacht eine lebhafte Hitze folgte, wodurch ihr der Schlaf geraubt wurde. Als ſie in dieſem krankhaft erregten Zuſtande an einem Tage vor dem Thore ſpazieren ging, wurde ſie von einem Schwindel befallen, ſo daß ihr alle Gegenſtaͤnde zu ſchwanken ſchienen, und ſie dadurch in eine peinliche Spannung verſetzt wurde. Die gleichzeitig empfun¬ dene Wuͤſtheit in ihrem Kopfe deutete noch mehr auf eine krankhafte Erregung ihres Nervenſyſtems hin, und hieraus

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/138
Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/138>, abgerufen am 24.11.2024.