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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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sehr guten Behandlung zu erfreuen hatte, da ihr freundliches
und gesittetes Betragen ihr das Wohlwollen Aller erwarb. Es
wurde ihr selbst der nicht seltene Besuch des Theaters gestattet,
an welchem, zumal an der Oper sie ein großes Wohlgefallen
empfand; dabei blieb sie aber den Aeltern stets mit inniger
Liebe zugethan, und unterstützte sie in ihrer bedrängten Lage
oft mit dem Ueberschuß ihres Lohns. Sie war stets gesund
und kräftig, und erkrankte nur einmal in Folge starker Erkäl¬
tung mehrere Wochen hindurch an einem heftigen Nervenfieber,
welches lebhaftes Irrereden zum Begleiter hatte, erlangte aber
bald ihre frühere Kraft und Lebensfrische wieder. Im 27. Jahre
lernte sie bei einer Freundin einen Tischlermeister kennen, wel¬
cher sich um ihre Hand bewarb, und sie auch erhielt, obgleich
sie in wehmüthiger Erinnerung an ihre erste Liebe ihm nicht
eine so lebhafte Neigung schenken konnte. Indeß da er fleißig,
brav, haushälterisch, und in jeder Beziehung gegen sie wohl¬
gesinnt war, und ihr gern den gelegentlichen Besuch des Thea¬
ters gönnte; so führte sie mit ihm eine glückliche Ehe, deren
Zufriedenheit durch keine Sorgen gestört wurde. Dabei ver¬
säumte sie den Besuch der Kirche nicht, in welcher ihre fromme
Rührung oft in Thränen sich ergoß. Nach einjähriger Ehe
wurde sie glücklich von einem gesunden Kinde entbunden, wel¬
ches sie zärtlich liebte, weshalb sie in tiefe Traurigkeit versetzt
wurde, als ihr dasselbe ein Jahr alt durch Zahnkrämpfe ent¬
rissen wurde. Ihr Schmerz wurde noch vermehrt durch die
Vorstellung, von welcher unglückliche Mütter in gleicher Lage
so oft heimgesucht werden, daß der Tod ihres Kindes eine
Strafe Gottes sei, und da sie sich keiner wichtigen Schuld be¬
wußt war, so glaubte sie darin gesündigt zu haben, daß sie
ihrem ersten Geliebten nicht treu geblieben sei. Wer erkennt
hierin nicht den ächt charakteristischen Zug des weiblichen Her¬
zens, dem die erste Liebe fast ein unverbrüchliches Gesetz für
das ganze Leben auferlegt, so daß es, selbst vom Schicksal von
demselben losgesprochen, dennoch ihm zu gehorchen durch einen
Unwiderstehlichen Zug sich angetrieben fühlt, ohne daß es dem
Verstande gelingt, die Thorheit einer solchen Neigung gegen
das eigensinnig beharrende Gefühl deutlich zu erkennen. Da
die L. selbst während ihres schweren Seelenleidens eine ähn¬

Ideler über d. rel. Wahnsinn, 9

ſehr guten Behandlung zu erfreuen hatte, da ihr freundliches
und geſittetes Betragen ihr das Wohlwollen Aller erwarb. Es
wurde ihr ſelbſt der nicht ſeltene Beſuch des Theaters geſtattet,
an welchem, zumal an der Oper ſie ein großes Wohlgefallen
empfand; dabei blieb ſie aber den Aeltern ſtets mit inniger
Liebe zugethan, und unterſtuͤtzte ſie in ihrer bedraͤngten Lage
oft mit dem Ueberſchuß ihres Lohns. Sie war ſtets geſund
und kraͤftig, und erkrankte nur einmal in Folge ſtarker Erkaͤl¬
tung mehrere Wochen hindurch an einem heftigen Nervenfieber,
welches lebhaftes Irrereden zum Begleiter hatte, erlangte aber
bald ihre fruͤhere Kraft und Lebensfriſche wieder. Im 27. Jahre
lernte ſie bei einer Freundin einen Tiſchlermeiſter kennen, wel¬
cher ſich um ihre Hand bewarb, und ſie auch erhielt, obgleich
ſie in wehmuͤthiger Erinnerung an ihre erſte Liebe ihm nicht
eine ſo lebhafte Neigung ſchenken konnte. Indeß da er fleißig,
brav, haushaͤlteriſch, und in jeder Beziehung gegen ſie wohl¬
geſinnt war, und ihr gern den gelegentlichen Beſuch des Thea¬
ters goͤnnte; ſo fuͤhrte ſie mit ihm eine gluͤckliche Ehe, deren
Zufriedenheit durch keine Sorgen geſtoͤrt wurde. Dabei ver¬
ſaͤumte ſie den Beſuch der Kirche nicht, in welcher ihre fromme
Ruͤhrung oft in Thraͤnen ſich ergoß. Nach einjaͤhriger Ehe
wurde ſie gluͤcklich von einem geſunden Kinde entbunden, wel¬
ches ſie zaͤrtlich liebte, weshalb ſie in tiefe Traurigkeit verſetzt
wurde, als ihr daſſelbe ein Jahr alt durch Zahnkraͤmpfe ent¬
riſſen wurde. Ihr Schmerz wurde noch vermehrt durch die
Vorſtellung, von welcher ungluͤckliche Muͤtter in gleicher Lage
ſo oft heimgeſucht werden, daß der Tod ihres Kindes eine
Strafe Gottes ſei, und da ſie ſich keiner wichtigen Schuld be¬
wußt war, ſo glaubte ſie darin geſuͤndigt zu haben, daß ſie
ihrem erſten Geliebten nicht treu geblieben ſei. Wer erkennt
hierin nicht den aͤcht charakteriſtiſchen Zug des weiblichen Her¬
zens, dem die erſte Liebe faſt ein unverbruͤchliches Geſetz fuͤr
das ganze Leben auferlegt, ſo daß es, ſelbſt vom Schickſal von
demſelben losgeſprochen, dennoch ihm zu gehorchen durch einen
Unwiderſtehlichen Zug ſich angetrieben fuͤhlt, ohne daß es dem
Verſtande gelingt, die Thorheit einer ſolchen Neigung gegen
das eigenſinnig beharrende Gefuͤhl deutlich zu erkennen. Da
die L. ſelbſt waͤhrend ihres ſchweren Seelenleidens eine aͤhn¬

Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn, 9
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[129/0137] ſehr guten Behandlung zu erfreuen hatte, da ihr freundliches und geſittetes Betragen ihr das Wohlwollen Aller erwarb. Es wurde ihr ſelbſt der nicht ſeltene Beſuch des Theaters geſtattet, an welchem, zumal an der Oper ſie ein großes Wohlgefallen empfand; dabei blieb ſie aber den Aeltern ſtets mit inniger Liebe zugethan, und unterſtuͤtzte ſie in ihrer bedraͤngten Lage oft mit dem Ueberſchuß ihres Lohns. Sie war ſtets geſund und kraͤftig, und erkrankte nur einmal in Folge ſtarker Erkaͤl¬ tung mehrere Wochen hindurch an einem heftigen Nervenfieber, welches lebhaftes Irrereden zum Begleiter hatte, erlangte aber bald ihre fruͤhere Kraft und Lebensfriſche wieder. Im 27. Jahre lernte ſie bei einer Freundin einen Tiſchlermeiſter kennen, wel¬ cher ſich um ihre Hand bewarb, und ſie auch erhielt, obgleich ſie in wehmuͤthiger Erinnerung an ihre erſte Liebe ihm nicht eine ſo lebhafte Neigung ſchenken konnte. Indeß da er fleißig, brav, haushaͤlteriſch, und in jeder Beziehung gegen ſie wohl¬ geſinnt war, und ihr gern den gelegentlichen Beſuch des Thea¬ ters goͤnnte; ſo fuͤhrte ſie mit ihm eine gluͤckliche Ehe, deren Zufriedenheit durch keine Sorgen geſtoͤrt wurde. Dabei ver¬ ſaͤumte ſie den Beſuch der Kirche nicht, in welcher ihre fromme Ruͤhrung oft in Thraͤnen ſich ergoß. Nach einjaͤhriger Ehe wurde ſie gluͤcklich von einem geſunden Kinde entbunden, wel¬ ches ſie zaͤrtlich liebte, weshalb ſie in tiefe Traurigkeit verſetzt wurde, als ihr daſſelbe ein Jahr alt durch Zahnkraͤmpfe ent¬ riſſen wurde. Ihr Schmerz wurde noch vermehrt durch die Vorſtellung, von welcher ungluͤckliche Muͤtter in gleicher Lage ſo oft heimgeſucht werden, daß der Tod ihres Kindes eine Strafe Gottes ſei, und da ſie ſich keiner wichtigen Schuld be¬ wußt war, ſo glaubte ſie darin geſuͤndigt zu haben, daß ſie ihrem erſten Geliebten nicht treu geblieben ſei. Wer erkennt hierin nicht den aͤcht charakteriſtiſchen Zug des weiblichen Her¬ zens, dem die erſte Liebe faſt ein unverbruͤchliches Geſetz fuͤr das ganze Leben auferlegt, ſo daß es, ſelbſt vom Schickſal von demſelben losgeſprochen, dennoch ihm zu gehorchen durch einen Unwiderſtehlichen Zug ſich angetrieben fuͤhlt, ohne daß es dem Verſtande gelingt, die Thorheit einer ſolchen Neigung gegen das eigenſinnig beharrende Gefuͤhl deutlich zu erkennen. Da die L. ſelbſt waͤhrend ihres ſchweren Seelenleidens eine aͤhn¬ Ideler uͤber d. rel. Wahnſinn, 9

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/137>, abgerufen am 24.11.2024.