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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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ihr erschienen, um sich von ihr segnen zu lassen. Anlangend
ihren messianischen Beruf sollte sie vornämlich dafür Sorge
tragen, daß alle Kinder in der rechten Glaubenserkenntniß er¬
zogen, und daß alle ärmeren Kinder auf Kosten der Reichen,
jedes mit 300 Thalern, ausgestattet werden sollten. Alle
Menschen sollten ferner durch den Genuß des heiligen Abend¬
mahls in den Bund der Brüder und Schwestern aufgenom¬
men werden, sich als solche innig lieben, und dies durch das
geschwisterliche Du bekräftigen, weil dies der einzige Weg zur
Seeligkeit sei. Durch sie sei mit dem Reiche Gottes der ewige
Friede auf die Erde gebracht worden, und fortan müßten alle
Kriege aufhören, alles Unrecht und Unordnung abgestellt wer¬
den, wenn nicht ewige Verdammniß als Strafe für die Ver¬
achtung des durch sie kundgegebenen Willens Gottes erfolgen
solle.

Im Antriebe ihres Wahns verwickelte sie sich in eine
Menge verdrüßlicher Auftritte, wodurch sie in der Meinung be¬
stärkt wurde, daß die Welt ihren messianischen Beruf nicht
anerkenne, die Gebote Gottes nicht beachte und erfülle, also
des ewigen Heils nicht theilhaftig werden wolle. Insbesondere
gerieth sie mit dem Uhrmacher in Streit, als sie ihn mit der
Anrede, lieber Bruder, dutzte, und ihm diese Vertraulichkeit
als eine heilige Pflicht begreiflich machen wollte. Da sie sich
dasselbe gegen seine Frau herausnahm, und sie sogar umar¬
men wollte, um ihr den Schwesterkuß zu geben, so mußte sie
nicht nur harte Worte, daß sie wahnsinnig sei, hören, son¬
dern sie scheint auch noch auf eine derbere Art abgewiesen
worden zu sein. Gleiches Loos widerfuhr ihr bei einem Kauf¬
mann, den sie ebenfalls mit Du anredete, und welcher sie
nach einem Wortstreit aus dem Laden warf, welches zu ihrer
großen Kränkung von dem Uhrmacher belobt wurde. Wahr¬
scheinlich wurde sie in der Nachbarschaft wegen ihrer Schwär¬
merei verspottet, so oft sie sich auf der Straße blicken ließ,
und sie mag wohl oft von den Gassenbuben mit Schimpf
vefolgt, selbst in ihrer Wohnung nicht ganz geschützt gewesen
sein. Tief bekümmert klagte sie Gott ihre Noth, welcher ihr
im Innern den Trost zusprach: "Laß sie spotten, laß sie la¬
chen, ich werde sie alle zu Schanden machen, ich habe ein

ihr erſchienen, um ſich von ihr ſegnen zu laſſen. Anlangend
ihren meſſianiſchen Beruf ſollte ſie vornaͤmlich dafuͤr Sorge
tragen, daß alle Kinder in der rechten Glaubenserkenntniß er¬
zogen, und daß alle aͤrmeren Kinder auf Koſten der Reichen,
jedes mit 300 Thalern, ausgeſtattet werden ſollten. Alle
Menſchen ſollten ferner durch den Genuß des heiligen Abend¬
mahls in den Bund der Bruͤder und Schweſtern aufgenom¬
men werden, ſich als ſolche innig lieben, und dies durch das
geſchwiſterliche Du bekraͤftigen, weil dies der einzige Weg zur
Seeligkeit ſei. Durch ſie ſei mit dem Reiche Gottes der ewige
Friede auf die Erde gebracht worden, und fortan muͤßten alle
Kriege aufhoͤren, alles Unrecht und Unordnung abgeſtellt wer¬
den, wenn nicht ewige Verdammniß als Strafe fuͤr die Ver¬
achtung des durch ſie kundgegebenen Willens Gottes erfolgen
ſolle.

Im Antriebe ihres Wahns verwickelte ſie ſich in eine
Menge verdruͤßlicher Auftritte, wodurch ſie in der Meinung be¬
ſtaͤrkt wurde, daß die Welt ihren meſſianiſchen Beruf nicht
anerkenne, die Gebote Gottes nicht beachte und erfuͤlle, alſo
des ewigen Heils nicht theilhaftig werden wolle. Insbeſondere
gerieth ſie mit dem Uhrmacher in Streit, als ſie ihn mit der
Anrede, lieber Bruder, dutzte, und ihm dieſe Vertraulichkeit
als eine heilige Pflicht begreiflich machen wollte. Da ſie ſich
daſſelbe gegen ſeine Frau herausnahm, und ſie ſogar umar¬
men wollte, um ihr den Schweſterkuß zu geben, ſo mußte ſie
nicht nur harte Worte, daß ſie wahnſinnig ſei, hoͤren, ſon¬
dern ſie ſcheint auch noch auf eine derbere Art abgewieſen
worden zu ſein. Gleiches Loos widerfuhr ihr bei einem Kauf¬
mann, den ſie ebenfalls mit Du anredete, und welcher ſie
nach einem Wortſtreit aus dem Laden warf, welches zu ihrer
großen Kraͤnkung von dem Uhrmacher belobt wurde. Wahr¬
ſcheinlich wurde ſie in der Nachbarſchaft wegen ihrer Schwaͤr¬
merei verſpottet, ſo oft ſie ſich auf der Straße blicken ließ,
und ſie mag wohl oft von den Gaſſenbuben mit Schimpf
vefolgt, ſelbſt in ihrer Wohnung nicht ganz geſchuͤtzt geweſen
ſein. Tief bekuͤmmert klagte ſie Gott ihre Noth, welcher ihr
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[116/0124] ihr erſchienen, um ſich von ihr ſegnen zu laſſen. Anlangend ihren meſſianiſchen Beruf ſollte ſie vornaͤmlich dafuͤr Sorge tragen, daß alle Kinder in der rechten Glaubenserkenntniß er¬ zogen, und daß alle aͤrmeren Kinder auf Koſten der Reichen, jedes mit 300 Thalern, ausgeſtattet werden ſollten. Alle Menſchen ſollten ferner durch den Genuß des heiligen Abend¬ mahls in den Bund der Bruͤder und Schweſtern aufgenom¬ men werden, ſich als ſolche innig lieben, und dies durch das geſchwiſterliche Du bekraͤftigen, weil dies der einzige Weg zur Seeligkeit ſei. Durch ſie ſei mit dem Reiche Gottes der ewige Friede auf die Erde gebracht worden, und fortan muͤßten alle Kriege aufhoͤren, alles Unrecht und Unordnung abgeſtellt wer¬ den, wenn nicht ewige Verdammniß als Strafe fuͤr die Ver¬ achtung des durch ſie kundgegebenen Willens Gottes erfolgen ſolle. Im Antriebe ihres Wahns verwickelte ſie ſich in eine Menge verdruͤßlicher Auftritte, wodurch ſie in der Meinung be¬ ſtaͤrkt wurde, daß die Welt ihren meſſianiſchen Beruf nicht anerkenne, die Gebote Gottes nicht beachte und erfuͤlle, alſo des ewigen Heils nicht theilhaftig werden wolle. Insbeſondere gerieth ſie mit dem Uhrmacher in Streit, als ſie ihn mit der Anrede, lieber Bruder, dutzte, und ihm dieſe Vertraulichkeit als eine heilige Pflicht begreiflich machen wollte. Da ſie ſich daſſelbe gegen ſeine Frau herausnahm, und ſie ſogar umar¬ men wollte, um ihr den Schweſterkuß zu geben, ſo mußte ſie nicht nur harte Worte, daß ſie wahnſinnig ſei, hoͤren, ſon¬ dern ſie ſcheint auch noch auf eine derbere Art abgewieſen worden zu ſein. Gleiches Loos widerfuhr ihr bei einem Kauf¬ mann, den ſie ebenfalls mit Du anredete, und welcher ſie nach einem Wortſtreit aus dem Laden warf, welches zu ihrer großen Kraͤnkung von dem Uhrmacher belobt wurde. Wahr¬ ſcheinlich wurde ſie in der Nachbarſchaft wegen ihrer Schwaͤr¬ merei verſpottet, ſo oft ſie ſich auf der Straße blicken ließ, und ſie mag wohl oft von den Gaſſenbuben mit Schimpf vefolgt, ſelbſt in ihrer Wohnung nicht ganz geſchuͤtzt geweſen ſein. Tief bekuͤmmert klagte ſie Gott ihre Noth, welcher ihr im Innern den Troſt zuſprach: „Laß ſie ſpotten, laß ſie la¬ chen, ich werde ſie alle zu Schanden machen, ich habe ein

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/124>, abgerufen am 22.11.2024.