Natur der Geisteskrankheiten das stärkste Hinderniß entgegen¬ stellen. An sich ist der Wahnsinn schon eine so grauenvolle Erscheinung, daß er fast wie ein Medusenhaupt den Blick zu¬ rückschreckt. Denn unsre tief gegründete Ueberzeugung, daß die Vernunft als der Spiegel Gottes in uns die Urkunde uns¬ rer Abstammung von ihm ausstellt, erzeugt ein wahres Ent¬ setzen vor einem Menschen, dessen ganze Erscheinung die Ver¬ nunft als das Gesetz alles Denkens und sittlichen Handelns verleugnet. Kann irgend Jemand so vollständig von seiner Natur und Bestimmung abfallen, wer steht uns dafür, daß uns nicht dasselbe Loos betreffen werde? Ist überhaupt der Beweis gegeben, daß der Mensch den Tod seines Geistes überleben könne, wo giebt es dann noch eine Bürgschaft für seine Unsterblichkeit? Alle diese marternden Vorstellungen sind oft genug ausgesprochen worden, und aus ihnen erklärt sich hinlänglich die Scheu, mit welcher fast Jeder es sorgfältig ver¬ meidet, dem Wahnsinn sein Nachdenken zu widmen, um nicht ein dämonisches Gespenst aus Grabesnacht in sein Bewußt¬ sein heraufzubeschwören, und nicht letzteres dem Hauche des Todes auszusetzen. Indem man daher der kleinen Schaar der psychischen Aerzte allein die Sorge für die unglücklichen Geisteskranken bereitwillig überließ, pflegte man erstere tief zu beklagen, daß ihr Beruf sie gleichsam auf einen verlorenen Posten gestellt habe, wo sie im steten Kampfe mit den grau¬ sigsten Schrecknissen jeder reinen Lebensfreude verlustig gehen müßten. Selbst den meisten Irrenärzten blieb der Begriff eines wirklichen Erkranktseins des Geistes, also der schein¬ baren Gefahr seiner wesentlichen Vernichtung so unerträglich, daß sie denselben gänzlich verwarfen, und eine Menge von hypothetischen Deutungen erkünstelten, nach denen der Geist bei den Verirrungen und Zerrüttungen des Bewußtseins im Wahnsinn unmittelbar gar nicht betheiligt, sondern dieselben nur Wirkungen körperlicher Leiden sein sollten, welche in Ner¬ venfiebern, Entzündungen, Krämpfen und dgl. oft genug das Irrereden als die dem Wahnsinn zunächst verwandte Erschei¬ nung hervorrufen, und nach ihrem Ablauf das geregelte Wir¬ ken der Seele ohne den geringsten Abbruch wieder hervortre¬ ten lassen. Damit war nun freilich jede Angst vor einem
Natur der Geiſteskrankheiten das ſtaͤrkſte Hinderniß entgegen¬ ſtellen. An ſich iſt der Wahnſinn ſchon eine ſo grauenvolle Erſcheinung, daß er faſt wie ein Meduſenhaupt den Blick zu¬ ruͤckſchreckt. Denn unſre tief gegruͤndete Ueberzeugung, daß die Vernunft als der Spiegel Gottes in uns die Urkunde unſ¬ rer Abſtammung von ihm ausſtellt, erzeugt ein wahres Ent¬ ſetzen vor einem Menſchen, deſſen ganze Erſcheinung die Ver¬ nunft als das Geſetz alles Denkens und ſittlichen Handelns verleugnet. Kann irgend Jemand ſo vollſtaͤndig von ſeiner Natur und Beſtimmung abfallen, wer ſteht uns dafuͤr, daß uns nicht daſſelbe Loos betreffen werde? Iſt uͤberhaupt der Beweis gegeben, daß der Menſch den Tod ſeines Geiſtes uͤberleben koͤnne, wo giebt es dann noch eine Buͤrgſchaft fuͤr ſeine Unſterblichkeit? Alle dieſe marternden Vorſtellungen ſind oft genug ausgeſprochen worden, und aus ihnen erklaͤrt ſich hinlaͤnglich die Scheu, mit welcher faſt Jeder es ſorgfaͤltig ver¬ meidet, dem Wahnſinn ſein Nachdenken zu widmen, um nicht ein daͤmoniſches Geſpenſt aus Grabesnacht in ſein Bewußt¬ ſein heraufzubeſchwoͤren, und nicht letzteres dem Hauche des Todes auszuſetzen. Indem man daher der kleinen Schaar der pſychiſchen Aerzte allein die Sorge fuͤr die ungluͤcklichen Geiſteskranken bereitwillig uͤberließ, pflegte man erſtere tief zu beklagen, daß ihr Beruf ſie gleichſam auf einen verlorenen Poſten geſtellt habe, wo ſie im ſteten Kampfe mit den grau¬ ſigſten Schreckniſſen jeder reinen Lebensfreude verluſtig gehen muͤßten. Selbſt den meiſten Irrenaͤrzten blieb der Begriff eines wirklichen Erkranktſeins des Geiſtes, alſo der ſchein¬ baren Gefahr ſeiner weſentlichen Vernichtung ſo unertraͤglich, daß ſie denſelben gaͤnzlich verwarfen, und eine Menge von hypothetiſchen Deutungen erkuͤnſtelten, nach denen der Geiſt bei den Verirrungen und Zerruͤttungen des Bewußtſeins im Wahnſinn unmittelbar gar nicht betheiligt, ſondern dieſelben nur Wirkungen koͤrperlicher Leiden ſein ſollten, welche in Ner¬ venfiebern, Entzuͤndungen, Kraͤmpfen und dgl. oft genug das Irrereden als die dem Wahnſinn zunaͤchſt verwandte Erſchei¬ nung hervorrufen, und nach ihrem Ablauf das geregelte Wir¬ ken der Seele ohne den geringſten Abbruch wieder hervortre¬ ten laſſen. Damit war nun freilich jede Angſt vor einem
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[4/0012]
Natur der Geiſteskrankheiten das ſtaͤrkſte Hinderniß entgegen¬
ſtellen. An ſich iſt der Wahnſinn ſchon eine ſo grauenvolle
Erſcheinung, daß er faſt wie ein Meduſenhaupt den Blick zu¬
ruͤckſchreckt. Denn unſre tief gegruͤndete Ueberzeugung, daß
die Vernunft als der Spiegel Gottes in uns die Urkunde unſ¬
rer Abſtammung von ihm ausſtellt, erzeugt ein wahres Ent¬
ſetzen vor einem Menſchen, deſſen ganze Erſcheinung die Ver¬
nunft als das Geſetz alles Denkens und ſittlichen Handelns
verleugnet. Kann irgend Jemand ſo vollſtaͤndig von ſeiner
Natur und Beſtimmung abfallen, wer ſteht uns dafuͤr, daß
uns nicht daſſelbe Loos betreffen werde? Iſt uͤberhaupt der
Beweis gegeben, daß der Menſch den Tod ſeines Geiſtes
uͤberleben koͤnne, wo giebt es dann noch eine Buͤrgſchaft fuͤr
ſeine Unſterblichkeit? Alle dieſe marternden Vorſtellungen ſind
oft genug ausgeſprochen worden, und aus ihnen erklaͤrt ſich
hinlaͤnglich die Scheu, mit welcher faſt Jeder es ſorgfaͤltig ver¬
meidet, dem Wahnſinn ſein Nachdenken zu widmen, um nicht
ein daͤmoniſches Geſpenſt aus Grabesnacht in ſein Bewußt¬
ſein heraufzubeſchwoͤren, und nicht letzteres dem Hauche des
Todes auszuſetzen. Indem man daher der kleinen Schaar
der pſychiſchen Aerzte allein die Sorge fuͤr die ungluͤcklichen
Geiſteskranken bereitwillig uͤberließ, pflegte man erſtere tief
zu beklagen, daß ihr Beruf ſie gleichſam auf einen verlorenen
Poſten geſtellt habe, wo ſie im ſteten Kampfe mit den grau¬
ſigſten Schreckniſſen jeder reinen Lebensfreude verluſtig gehen
muͤßten. Selbſt den meiſten Irrenaͤrzten blieb der Begriff
eines wirklichen Erkranktſeins des Geiſtes, alſo der ſchein¬
baren Gefahr ſeiner weſentlichen Vernichtung ſo unertraͤglich,
daß ſie denſelben gaͤnzlich verwarfen, und eine Menge von
hypothetiſchen Deutungen erkuͤnſtelten, nach denen der Geiſt
bei den Verirrungen und Zerruͤttungen des Bewußtſeins im
Wahnſinn unmittelbar gar nicht betheiligt, ſondern dieſelben
nur Wirkungen koͤrperlicher Leiden ſein ſollten, welche in Ner¬
venfiebern, Entzuͤndungen, Kraͤmpfen und dgl. oft genug das
Irrereden als die dem Wahnſinn zunaͤchſt verwandte Erſchei¬
nung hervorrufen, und nach ihrem Ablauf das geregelte Wir¬
ken der Seele ohne den geringſten Abbruch wieder hervortre¬
ten laſſen. Damit war nun freilich jede Angſt vor einem
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/12>, abgerufen am 05.07.2024.
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