Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.Natur der Geisteskrankheiten das stärkste Hinderniß entgegen¬ Natur der Geiſteskrankheiten das ſtaͤrkſte Hinderniß entgegen¬ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0012" n="4"/> Natur der Geiſteskrankheiten das ſtaͤrkſte Hinderniß entgegen¬<lb/> ſtellen. An ſich iſt der Wahnſinn ſchon eine ſo grauenvolle<lb/> Erſcheinung, daß er faſt wie ein Meduſenhaupt den Blick zu¬<lb/> ruͤckſchreckt. Denn unſre tief gegruͤndete Ueberzeugung, daß<lb/> die Vernunft als der Spiegel Gottes in uns die Urkunde unſ¬<lb/> rer Abſtammung von ihm ausſtellt, erzeugt ein wahres Ent¬<lb/> ſetzen vor einem Menſchen, deſſen ganze Erſcheinung die Ver¬<lb/> nunft als das Geſetz alles Denkens und ſittlichen Handelns<lb/> verleugnet. Kann irgend Jemand ſo vollſtaͤndig von ſeiner<lb/> Natur und Beſtimmung abfallen, wer ſteht uns dafuͤr, daß<lb/> uns nicht daſſelbe Loos betreffen werde? Iſt uͤberhaupt der<lb/> Beweis gegeben, daß der Menſch den Tod ſeines Geiſtes<lb/> uͤberleben koͤnne, wo giebt es dann noch eine Buͤrgſchaft fuͤr<lb/> ſeine Unſterblichkeit? Alle dieſe marternden Vorſtellungen ſind<lb/> oft genug ausgeſprochen worden, und aus ihnen erklaͤrt ſich<lb/> hinlaͤnglich die Scheu, mit welcher faſt Jeder es ſorgfaͤltig ver¬<lb/> meidet, dem Wahnſinn ſein Nachdenken zu widmen, um nicht<lb/> ein daͤmoniſches Geſpenſt aus Grabesnacht in ſein Bewußt¬<lb/> ſein heraufzubeſchwoͤren, und nicht letzteres dem Hauche des<lb/> Todes auszuſetzen. Indem man daher der kleinen Schaar<lb/> der pſychiſchen Aerzte allein die Sorge fuͤr die ungluͤcklichen<lb/> Geiſteskranken bereitwillig uͤberließ, pflegte man erſtere tief<lb/> zu beklagen, daß ihr Beruf ſie gleichſam auf einen verlorenen<lb/> Poſten geſtellt habe, wo ſie im ſteten Kampfe mit den grau¬<lb/> ſigſten Schreckniſſen jeder reinen Lebensfreude verluſtig gehen<lb/> muͤßten. Selbſt den meiſten Irrenaͤrzten blieb der Begriff<lb/> eines wirklichen Erkranktſeins des Geiſtes, alſo der <hi rendition="#g">ſchein¬<lb/> baren</hi> Gefahr ſeiner weſentlichen Vernichtung ſo unertraͤglich,<lb/> daß ſie denſelben gaͤnzlich verwarfen, und eine Menge von<lb/> hypothetiſchen Deutungen erkuͤnſtelten, nach denen der Geiſt<lb/> bei den Verirrungen und Zerruͤttungen des Bewußtſeins im<lb/> Wahnſinn unmittelbar gar nicht betheiligt, ſondern dieſelben<lb/> nur Wirkungen koͤrperlicher Leiden ſein ſollten, welche in Ner¬<lb/> venfiebern, Entzuͤndungen, Kraͤmpfen und dgl. oft genug das<lb/> Irrereden als die dem Wahnſinn zunaͤchſt verwandte Erſchei¬<lb/> nung hervorrufen, und nach ihrem Ablauf das geregelte Wir¬<lb/> ken der Seele ohne den geringſten Abbruch wieder hervortre¬<lb/> ten laſſen. Damit war nun freilich jede Angſt vor einem<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [4/0012]
Natur der Geiſteskrankheiten das ſtaͤrkſte Hinderniß entgegen¬
ſtellen. An ſich iſt der Wahnſinn ſchon eine ſo grauenvolle
Erſcheinung, daß er faſt wie ein Meduſenhaupt den Blick zu¬
ruͤckſchreckt. Denn unſre tief gegruͤndete Ueberzeugung, daß
die Vernunft als der Spiegel Gottes in uns die Urkunde unſ¬
rer Abſtammung von ihm ausſtellt, erzeugt ein wahres Ent¬
ſetzen vor einem Menſchen, deſſen ganze Erſcheinung die Ver¬
nunft als das Geſetz alles Denkens und ſittlichen Handelns
verleugnet. Kann irgend Jemand ſo vollſtaͤndig von ſeiner
Natur und Beſtimmung abfallen, wer ſteht uns dafuͤr, daß
uns nicht daſſelbe Loos betreffen werde? Iſt uͤberhaupt der
Beweis gegeben, daß der Menſch den Tod ſeines Geiſtes
uͤberleben koͤnne, wo giebt es dann noch eine Buͤrgſchaft fuͤr
ſeine Unſterblichkeit? Alle dieſe marternden Vorſtellungen ſind
oft genug ausgeſprochen worden, und aus ihnen erklaͤrt ſich
hinlaͤnglich die Scheu, mit welcher faſt Jeder es ſorgfaͤltig ver¬
meidet, dem Wahnſinn ſein Nachdenken zu widmen, um nicht
ein daͤmoniſches Geſpenſt aus Grabesnacht in ſein Bewußt¬
ſein heraufzubeſchwoͤren, und nicht letzteres dem Hauche des
Todes auszuſetzen. Indem man daher der kleinen Schaar
der pſychiſchen Aerzte allein die Sorge fuͤr die ungluͤcklichen
Geiſteskranken bereitwillig uͤberließ, pflegte man erſtere tief
zu beklagen, daß ihr Beruf ſie gleichſam auf einen verlorenen
Poſten geſtellt habe, wo ſie im ſteten Kampfe mit den grau¬
ſigſten Schreckniſſen jeder reinen Lebensfreude verluſtig gehen
muͤßten. Selbſt den meiſten Irrenaͤrzten blieb der Begriff
eines wirklichen Erkranktſeins des Geiſtes, alſo der ſchein¬
baren Gefahr ſeiner weſentlichen Vernichtung ſo unertraͤglich,
daß ſie denſelben gaͤnzlich verwarfen, und eine Menge von
hypothetiſchen Deutungen erkuͤnſtelten, nach denen der Geiſt
bei den Verirrungen und Zerruͤttungen des Bewußtſeins im
Wahnſinn unmittelbar gar nicht betheiligt, ſondern dieſelben
nur Wirkungen koͤrperlicher Leiden ſein ſollten, welche in Ner¬
venfiebern, Entzuͤndungen, Kraͤmpfen und dgl. oft genug das
Irrereden als die dem Wahnſinn zunaͤchſt verwandte Erſchei¬
nung hervorrufen, und nach ihrem Ablauf das geregelte Wir¬
ken der Seele ohne den geringſten Abbruch wieder hervortre¬
ten laſſen. Damit war nun freilich jede Angſt vor einem
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