Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.ihr die Welt als ein Exil erscheinen, in welchem sie nach Er¬ Ihre nächste mehrjährige Dienstzeit bei einem hiesigen ihr die Welt als ein Exil erſcheinen, in welchem ſie nach Er¬ Ihre naͤchſte mehrjaͤhrige Dienſtzeit bei einem hieſigen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0117" n="109"/> ihr die Welt als ein Exil erſcheinen, in welchem ſie nach Er¬<lb/> loͤſung ſchmachtete. Sie ſtand ganz allein, lernte die Men¬<lb/> ſchen nur von einer haͤßlichen Seite kennen, traf uͤberall auf<lb/> rohe, unſittliche Verhaͤltniſſe, unter denen ſie ſo viel zu lei¬<lb/> den hatte, und ſchoͤpfte nur Troſt aus dem Beſuch der<lb/> Kirche, wo ſie oft ihrer Wehmuth durch einen Thraͤnen¬<lb/> ſtrom Luft machte. Denn zur eigentlichen Glaubensfreudigkeit<lb/> fehlte ihr die noͤthige Elaſticitaͤt des Gemuͤths, und ſie konnte<lb/> es in ihrer religioͤſen Anſchauung nur ſo weit bringen, daß<lb/> ſie ein wirkliches Verzagen von ſich fern hielt, und nament¬<lb/> lich das Abendmahl mit der innigen Ueberzeugung empfing,<lb/> Gott werde ihr ihre Suͤnden verzeihen, und ihr Kraft und<lb/> Huͤlfe in aller Noth gewaͤhren. Uebrigens fehlte es ihr zu<lb/> anderen Andachtsuͤbungen an Zeit.</p><lb/> <p>Ihre naͤchſte mehrjaͤhrige Dienſtzeit bei einem hieſigen<lb/> Ackerbuͤrger, welcher ihr eine in jeder Beziehung gute Behand¬<lb/> lung angedeihen ließ, war die einzige ſorgenfreie Zeit ihres<lb/> Lebens; ſie lernte hier ihren ehemaligen Ehemann kennen, wel¬<lb/> cher Hausknecht von jenem war, und gewann ihn lieb, da er<lb/> ſeine ſchlimmen Neigungen zum Trunk und zum Kartenſpiel<lb/> ſorgfaͤltig verheimlichte, und ſich ihr von einer moͤglichſt vor¬<lb/> theilhaften Seite zeigte. Im 25. Lebensjahre reichte ſie ihm<lb/> die Hand, nachdem er ihr vorgeſchwatzt hatte, daß er im Be-<lb/> ſitz eines kleinen Vermoͤgens zu ihrer haͤuslichen Einrichtung<lb/> ſei; nachdem ſie aber ihre kleinen Erſparniſſe zu dieſem Zwecke<lb/> verwandt hatte, erfuhr ſie zu ihrem Schrecken, daß er ſeine<lb/> Baarſchaft vergeudet habe. Bald wurde ſie gewahr, daß ſie<lb/> einen Nichtswuͤrdigen zum Manne gewaͤhlt hatte, welcher von<lb/> ſeiner Arbeit faſt immer berauſcht zuruͤckkehrte, und ihre Er¬<lb/> mahnungen zu einem beſſeren Lebenswandel entweder unbeach¬<lb/> tet ließ, oder ſie mit Fluͤchen und Schimpfworten erwiederte,<lb/> wobei er ſie oft auf die Erde warf, mit Schlaͤgen auf den<lb/> Kopf und mit Fußtritten mißhandelte, oder ſie an den Haa¬<lb/> ren in der Stube herumzerrte. Einmal hatte er ihr einen<lb/> ſo ſchweren Schlag gegeben, daß ſie eine Stunde lang beſin¬<lb/> nungslos blieb. Nie konnte ſie mit ihm ein vernuͤnftiges<lb/> Wort ſprechen, ſelten bekam ſie von ſeinem Erwerbe, welchen<lb/> er in Schenken bei Branntwein und Kartenſpiel bis ſpaͤt in<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [109/0117]
ihr die Welt als ein Exil erſcheinen, in welchem ſie nach Er¬
loͤſung ſchmachtete. Sie ſtand ganz allein, lernte die Men¬
ſchen nur von einer haͤßlichen Seite kennen, traf uͤberall auf
rohe, unſittliche Verhaͤltniſſe, unter denen ſie ſo viel zu lei¬
den hatte, und ſchoͤpfte nur Troſt aus dem Beſuch der
Kirche, wo ſie oft ihrer Wehmuth durch einen Thraͤnen¬
ſtrom Luft machte. Denn zur eigentlichen Glaubensfreudigkeit
fehlte ihr die noͤthige Elaſticitaͤt des Gemuͤths, und ſie konnte
es in ihrer religioͤſen Anſchauung nur ſo weit bringen, daß
ſie ein wirkliches Verzagen von ſich fern hielt, und nament¬
lich das Abendmahl mit der innigen Ueberzeugung empfing,
Gott werde ihr ihre Suͤnden verzeihen, und ihr Kraft und
Huͤlfe in aller Noth gewaͤhren. Uebrigens fehlte es ihr zu
anderen Andachtsuͤbungen an Zeit.
Ihre naͤchſte mehrjaͤhrige Dienſtzeit bei einem hieſigen
Ackerbuͤrger, welcher ihr eine in jeder Beziehung gute Behand¬
lung angedeihen ließ, war die einzige ſorgenfreie Zeit ihres
Lebens; ſie lernte hier ihren ehemaligen Ehemann kennen, wel¬
cher Hausknecht von jenem war, und gewann ihn lieb, da er
ſeine ſchlimmen Neigungen zum Trunk und zum Kartenſpiel
ſorgfaͤltig verheimlichte, und ſich ihr von einer moͤglichſt vor¬
theilhaften Seite zeigte. Im 25. Lebensjahre reichte ſie ihm
die Hand, nachdem er ihr vorgeſchwatzt hatte, daß er im Be-
ſitz eines kleinen Vermoͤgens zu ihrer haͤuslichen Einrichtung
ſei; nachdem ſie aber ihre kleinen Erſparniſſe zu dieſem Zwecke
verwandt hatte, erfuhr ſie zu ihrem Schrecken, daß er ſeine
Baarſchaft vergeudet habe. Bald wurde ſie gewahr, daß ſie
einen Nichtswuͤrdigen zum Manne gewaͤhlt hatte, welcher von
ſeiner Arbeit faſt immer berauſcht zuruͤckkehrte, und ihre Er¬
mahnungen zu einem beſſeren Lebenswandel entweder unbeach¬
tet ließ, oder ſie mit Fluͤchen und Schimpfworten erwiederte,
wobei er ſie oft auf die Erde warf, mit Schlaͤgen auf den
Kopf und mit Fußtritten mißhandelte, oder ſie an den Haa¬
ren in der Stube herumzerrte. Einmal hatte er ihr einen
ſo ſchweren Schlag gegeben, daß ſie eine Stunde lang beſin¬
nungslos blieb. Nie konnte ſie mit ihm ein vernuͤnftiges
Wort ſprechen, ſelten bekam ſie von ſeinem Erwerbe, welchen
er in Schenken bei Branntwein und Kartenſpiel bis ſpaͤt in
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