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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847.

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mißhandelte, und dadurch letztere zwang, frühzeitig in fremde
Dienste zu treten. Nur unsre Kranke mußte wegen ihres
zarten Alters noch bei den Aeltern zurückbleiben, und sie war
daher oft Zeugin von der brutalen Behandlung, welche ihre
Mutter erduldete, wie sie dann einmal so schwer verletzt wur¬
de, daß sie längere Zeit das Bette hüten mußte. Mit In¬
nigkeit ihrer liebevollen Mutter ergeben, führte sie die sanfte
Dulderin zuweilen ins Freie und wieder auf das Schmerzens¬
lager zurück, und sie vergießt noch jetzt heiße Thränen bei der
Schilderung der herzzerreißenden Scenen, welche auf ihr kind¬
liches Gemüth den tiefsten Eindruck machen mußten. Nament¬
lich wurde sie tief durch den Tod derselben erschüttert, dem
ein rührender Auftritt vorherging, da die Sterbende alle Kin¬
der an das Bette hatte rufen lassen, und von ihnen mit den
Worten Abschied nahm: "Lebt wohl, in einer besseren Welt
sehen wir uns wieder." Es ist eine öfters vorkommende That¬
sache, daß das zarte Gemüth der Kinder, obgleich ursprüng¬
lich nicht zu tieferer Erregung geeignet, doch durch schlimme
Ereignisse aus seinem süßen Frieden feindseelig aufgestört, und
dann für unauslöschliche Eindrücke empfänglich werden kann,
welche nicht selten den Charakter des späteren Lebens bestim¬
men, daß namentlich religiöse Gefühle gewaltsam geweckt der
Gesinnung einen Ernst, ja eine Düsterheit verleihen, welche
später niemals verwischt wird, so daß selbst religiöse Sinnes¬
täuschungen, welche im späteren Leben nur durch einen hohen
Grad von Schwärmerei hervorgerufen werden, bei Kindern zu¬
weilen vorkommen. Die F., damals erst 6 Jahre alt, gerieth
durch den Tod der geliebten Mutter religiös aufgeregt in ein
solches Entsetzen, daß ihr das ganze Leben als ein Schreckbild
erschien, und sie deutlich in ihrem Herzen die Stimme Gottes
zu vernehmen glaubte, welche ihr zurief: "mein Kind, dir
wird es traurig gehen in der Welt." Sie versichert, diese
prophetische Offenbarung nie aus dem Sinne verloren zu ha¬
ben, und an sie besonders bei Gelegenheit ihrer Einsegnung
lebhaft erinnert worden zu sein, da der Prediger in seiner
Rede vornämlich darauf hindeutete, daß die um ihn versam¬
melte Schaar der Confirmanden wie eine Heerde in der Welt
zerstreut werden, hoffenllich aber in einem besseren Leben sich

mißhandelte, und dadurch letztere zwang, fruͤhzeitig in fremde
Dienſte zu treten. Nur unſre Kranke mußte wegen ihres
zarten Alters noch bei den Aeltern zuruͤckbleiben, und ſie war
daher oft Zeugin von der brutalen Behandlung, welche ihre
Mutter erduldete, wie ſie dann einmal ſo ſchwer verletzt wur¬
de, daß ſie laͤngere Zeit das Bette huͤten mußte. Mit In¬
nigkeit ihrer liebevollen Mutter ergeben, fuͤhrte ſie die ſanfte
Dulderin zuweilen ins Freie und wieder auf das Schmerzens¬
lager zuruͤck, und ſie vergießt noch jetzt heiße Thraͤnen bei der
Schilderung der herzzerreißenden Scenen, welche auf ihr kind¬
liches Gemuͤth den tiefſten Eindruck machen mußten. Nament¬
lich wurde ſie tief durch den Tod derſelben erſchuͤttert, dem
ein ruͤhrender Auftritt vorherging, da die Sterbende alle Kin¬
der an das Bette hatte rufen laſſen, und von ihnen mit den
Worten Abſchied nahm: „Lebt wohl, in einer beſſeren Welt
ſehen wir uns wieder.” Es iſt eine oͤfters vorkommende That¬
ſache, daß das zarte Gemuͤth der Kinder, obgleich urſpruͤng¬
lich nicht zu tieferer Erregung geeignet, doch durch ſchlimme
Ereigniſſe aus ſeinem ſuͤßen Frieden feindſeelig aufgeſtoͤrt, und
dann fuͤr unausloͤſchliche Eindruͤcke empfaͤnglich werden kann,
welche nicht ſelten den Charakter des ſpaͤteren Lebens beſtim¬
men, daß namentlich religioͤſe Gefuͤhle gewaltſam geweckt der
Geſinnung einen Ernſt, ja eine Duͤſterheit verleihen, welche
ſpaͤter niemals verwiſcht wird, ſo daß ſelbſt religioͤſe Sinnes¬
taͤuſchungen, welche im ſpaͤteren Leben nur durch einen hohen
Grad von Schwaͤrmerei hervorgerufen werden, bei Kindern zu¬
weilen vorkommen. Die F., damals erſt 6 Jahre alt, gerieth
durch den Tod der geliebten Mutter religioͤs aufgeregt in ein
ſolches Entſetzen, daß ihr das ganze Leben als ein Schreckbild
erſchien, und ſie deutlich in ihrem Herzen die Stimme Gottes
zu vernehmen glaubte, welche ihr zurief: „mein Kind, dir
wird es traurig gehen in der Welt.” Sie verſichert, dieſe
prophetiſche Offenbarung nie aus dem Sinne verloren zu ha¬
ben, und an ſie beſonders bei Gelegenheit ihrer Einſegnung
lebhaft erinnert worden zu ſein, da der Prediger in ſeiner
Rede vornaͤmlich darauf hindeutete, daß die um ihn verſam¬
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[106/0114] mißhandelte, und dadurch letztere zwang, fruͤhzeitig in fremde Dienſte zu treten. Nur unſre Kranke mußte wegen ihres zarten Alters noch bei den Aeltern zuruͤckbleiben, und ſie war daher oft Zeugin von der brutalen Behandlung, welche ihre Mutter erduldete, wie ſie dann einmal ſo ſchwer verletzt wur¬ de, daß ſie laͤngere Zeit das Bette huͤten mußte. Mit In¬ nigkeit ihrer liebevollen Mutter ergeben, fuͤhrte ſie die ſanfte Dulderin zuweilen ins Freie und wieder auf das Schmerzens¬ lager zuruͤck, und ſie vergießt noch jetzt heiße Thraͤnen bei der Schilderung der herzzerreißenden Scenen, welche auf ihr kind¬ liches Gemuͤth den tiefſten Eindruck machen mußten. Nament¬ lich wurde ſie tief durch den Tod derſelben erſchuͤttert, dem ein ruͤhrender Auftritt vorherging, da die Sterbende alle Kin¬ der an das Bette hatte rufen laſſen, und von ihnen mit den Worten Abſchied nahm: „Lebt wohl, in einer beſſeren Welt ſehen wir uns wieder.” Es iſt eine oͤfters vorkommende That¬ ſache, daß das zarte Gemuͤth der Kinder, obgleich urſpruͤng¬ lich nicht zu tieferer Erregung geeignet, doch durch ſchlimme Ereigniſſe aus ſeinem ſuͤßen Frieden feindſeelig aufgeſtoͤrt, und dann fuͤr unausloͤſchliche Eindruͤcke empfaͤnglich werden kann, welche nicht ſelten den Charakter des ſpaͤteren Lebens beſtim¬ men, daß namentlich religioͤſe Gefuͤhle gewaltſam geweckt der Geſinnung einen Ernſt, ja eine Duͤſterheit verleihen, welche ſpaͤter niemals verwiſcht wird, ſo daß ſelbſt religioͤſe Sinnes¬ taͤuſchungen, welche im ſpaͤteren Leben nur durch einen hohen Grad von Schwaͤrmerei hervorgerufen werden, bei Kindern zu¬ weilen vorkommen. Die F., damals erſt 6 Jahre alt, gerieth durch den Tod der geliebten Mutter religioͤs aufgeregt in ein ſolches Entſetzen, daß ihr das ganze Leben als ein Schreckbild erſchien, und ſie deutlich in ihrem Herzen die Stimme Gottes zu vernehmen glaubte, welche ihr zurief: „mein Kind, dir wird es traurig gehen in der Welt.” Sie verſichert, dieſe prophetiſche Offenbarung nie aus dem Sinne verloren zu ha¬ ben, und an ſie beſonders bei Gelegenheit ihrer Einſegnung lebhaft erinnert worden zu ſein, da der Prediger in ſeiner Rede vornaͤmlich darauf hindeutete, daß die um ihn verſam¬ melte Schaar der Confirmanden wie eine Heerde in der Welt zerſtreut werden, hoffenllich aber in einem beſſeren Leben ſich

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Zitationshilfe: Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 106. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/114>, abgerufen am 28.11.2024.