Reisen unternommen, um die Menschen zu bekehren, jetzt müsse sie ihm nachfolgen.
Ueberblickt man die bisher gegebene pathogenetische Dar¬ stellung, so kann man sich einer Rührung darüber nicht er¬ wehren, daß in allen Menschenseelen die Keime des Schönsten und Edelsten liegen, aber wegen äußerer Hindernisse nicht zur Entwickelung kommen, und deshalb, wenn erschütternde Er¬ eignisse den Wahn erzeugt, und durch ihn die innersten Tiefen des Gemüths aufgewühlt haben, in ihrer erzwungenen Anregung nur verkümmern können. Eine Magd, in den untergeordnet¬ sten Verhältnissen lebend, von mannigfacher Noth und Trübsal bedrängt, von welcher sie aus Mangel an kräftiger Selbstbe¬ stimmung sich nicht befreien, und deshalb über die materiellsten Verhältnisse nicht zu einem freieren Selbstbewußtsein sich er¬ heben kann, wird von einer Liebe ergriffen, welche schon von vorn herein die Möglichkeit jeder Erfüllung ihrer Sehnsucht ausschließt, und deshalb sogleich einen idealen Charakter an¬ nehmen muß. Ein tragisches Geschick, welches jede fernere Täuschung hätte zerstören müssen, bringt diese Wirkung nicht hervor, da die Liebe dem Gemüth so nothwendig geworden war, daß sie den Wahnsinn nicht scheute, und unter anderen Verhältnissen wahrscheinlich dem Tode nicht ausgewichen sein würde, um sich selbst für diesen Preis im Bewußtsein zu be¬ haupten. Im Innersten ergriffen und rastlos bewegt, erhebt die Kranke sich durch eine mächtige Steigerung ihrer Seelen¬ kräfte zu allgemeinen Weltanschauungen und zur Vorstellung der höchsten Lebensinteressen, von denen sie früher schwerlich die leiseste Ahnung hatte; sie fühlt die Verderbniß der Welt nicht allein in dem beschränkten Sinne, daß sie darunter zu leiden habe, sondern in der Erkenntniß, daß derselben Einhalt gethan werden müsse, und mit liebetrunkener Phantasie schwärmend, entwickelt sie ein poetisches Talent, welches in einer Fülle dich¬ terischer Bilder schwelgend die Erlösung des Menschengeschlechts durch die an ihr und an ihrem Geliebten offenbarte Gnaden¬ wirkung Gottes zu einer überschwenglichen Seeligkeit verheißt. Daß alles dies in wahnsinniger Verzerrung unter den Zuckun¬ gen einer maaßlosen Leidenschaft zum Vorschein kam, und da¬ durch jeder tieferen Bedeutung verlustig ging, beweiset nur so
Reiſen unternommen, um die Menſchen zu bekehren, jetzt muͤſſe ſie ihm nachfolgen.
Ueberblickt man die bisher gegebene pathogenetiſche Dar¬ ſtellung, ſo kann man ſich einer Ruͤhrung daruͤber nicht er¬ wehren, daß in allen Menſchenſeelen die Keime des Schoͤnſten und Edelſten liegen, aber wegen aͤußerer Hinderniſſe nicht zur Entwickelung kommen, und deshalb, wenn erſchuͤtternde Er¬ eigniſſe den Wahn erzeugt, und durch ihn die innerſten Tiefen des Gemuͤths aufgewuͤhlt haben, in ihrer erzwungenen Anregung nur verkuͤmmern koͤnnen. Eine Magd, in den untergeordnet¬ ſten Verhaͤltniſſen lebend, von mannigfacher Noth und Truͤbſal bedraͤngt, von welcher ſie aus Mangel an kraͤftiger Selbſtbe¬ ſtimmung ſich nicht befreien, und deshalb uͤber die materiellſten Verhaͤltniſſe nicht zu einem freieren Selbſtbewußtſein ſich er¬ heben kann, wird von einer Liebe ergriffen, welche ſchon von vorn herein die Moͤglichkeit jeder Erfuͤllung ihrer Sehnſucht ausſchließt, und deshalb ſogleich einen idealen Charakter an¬ nehmen muß. Ein tragiſches Geſchick, welches jede fernere Taͤuſchung haͤtte zerſtoͤren muͤſſen, bringt dieſe Wirkung nicht hervor, da die Liebe dem Gemuͤth ſo nothwendig geworden war, daß ſie den Wahnſinn nicht ſcheute, und unter anderen Verhaͤltniſſen wahrſcheinlich dem Tode nicht ausgewichen ſein wuͤrde, um ſich ſelbſt fuͤr dieſen Preis im Bewußtſein zu be¬ haupten. Im Innerſten ergriffen und raſtlos bewegt, erhebt die Kranke ſich durch eine maͤchtige Steigerung ihrer Seelen¬ kraͤfte zu allgemeinen Weltanſchauungen und zur Vorſtellung der hoͤchſten Lebensintereſſen, von denen ſie fruͤher ſchwerlich die leiſeſte Ahnung hatte; ſie fuͤhlt die Verderbniß der Welt nicht allein in dem beſchraͤnkten Sinne, daß ſie darunter zu leiden habe, ſondern in der Erkenntniß, daß derſelben Einhalt gethan werden muͤſſe, und mit liebetrunkener Phantaſie ſchwaͤrmend, entwickelt ſie ein poetiſches Talent, welches in einer Fuͤlle dich¬ teriſcher Bilder ſchwelgend die Erloͤſung des Menſchengeſchlechts durch die an ihr und an ihrem Geliebten offenbarte Gnaden¬ wirkung Gottes zu einer uͤberſchwenglichen Seeligkeit verheißt. Daß alles dies in wahnſinniger Verzerrung unter den Zuckun¬ gen einer maaßloſen Leidenſchaft zum Vorſchein kam, und da¬ durch jeder tieferen Bedeutung verluſtig ging, beweiſet nur ſo
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0106"n="98"/>
Reiſen unternommen, um die Menſchen zu bekehren, jetzt muͤſſe<lb/>ſie ihm nachfolgen.</p><lb/><p>Ueberblickt man die bisher gegebene pathogenetiſche Dar¬<lb/>ſtellung, ſo kann man ſich einer Ruͤhrung daruͤber nicht er¬<lb/>
wehren, daß in allen Menſchenſeelen die Keime des Schoͤnſten<lb/>
und Edelſten liegen, aber wegen aͤußerer Hinderniſſe nicht zur<lb/>
Entwickelung kommen, und deshalb, wenn erſchuͤtternde Er¬<lb/>
eigniſſe den Wahn erzeugt, und durch ihn die innerſten Tiefen<lb/>
des Gemuͤths aufgewuͤhlt haben, in ihrer erzwungenen Anregung<lb/>
nur verkuͤmmern koͤnnen. Eine Magd, in den untergeordnet¬<lb/>ſten Verhaͤltniſſen lebend, von mannigfacher Noth und Truͤbſal<lb/>
bedraͤngt, von welcher ſie aus Mangel an kraͤftiger Selbſtbe¬<lb/>ſtimmung ſich nicht befreien, und deshalb uͤber die materiellſten<lb/>
Verhaͤltniſſe nicht zu einem freieren Selbſtbewußtſein ſich er¬<lb/>
heben kann, wird von einer Liebe ergriffen, welche ſchon von<lb/>
vorn herein die Moͤglichkeit jeder Erfuͤllung ihrer Sehnſucht<lb/>
ausſchließt, und deshalb ſogleich einen idealen Charakter an¬<lb/>
nehmen muß. Ein tragiſches Geſchick, welches jede fernere<lb/>
Taͤuſchung haͤtte zerſtoͤren muͤſſen, bringt dieſe Wirkung nicht<lb/>
hervor, da die Liebe dem Gemuͤth ſo nothwendig geworden<lb/>
war, daß ſie den Wahnſinn nicht ſcheute, und unter anderen<lb/>
Verhaͤltniſſen wahrſcheinlich dem Tode nicht ausgewichen ſein<lb/>
wuͤrde, um ſich ſelbſt fuͤr dieſen Preis im Bewußtſein zu be¬<lb/>
haupten. Im Innerſten ergriffen und raſtlos bewegt, erhebt<lb/>
die Kranke ſich durch eine maͤchtige Steigerung ihrer Seelen¬<lb/>
kraͤfte zu allgemeinen Weltanſchauungen und zur Vorſtellung<lb/>
der hoͤchſten Lebensintereſſen, von denen ſie fruͤher ſchwerlich die<lb/>
leiſeſte Ahnung hatte; ſie fuͤhlt die Verderbniß der Welt nicht<lb/>
allein in dem beſchraͤnkten Sinne, daß ſie darunter zu leiden<lb/>
habe, ſondern in der Erkenntniß, daß derſelben Einhalt gethan<lb/>
werden muͤſſe, und mit liebetrunkener Phantaſie ſchwaͤrmend,<lb/>
entwickelt ſie ein poetiſches Talent, welches in einer Fuͤlle dich¬<lb/>
teriſcher Bilder ſchwelgend die Erloͤſung des Menſchengeſchlechts<lb/>
durch die an ihr und an ihrem Geliebten offenbarte Gnaden¬<lb/>
wirkung Gottes zu einer uͤberſchwenglichen Seeligkeit verheißt.<lb/>
Daß alles dies in wahnſinniger Verzerrung unter den Zuckun¬<lb/>
gen einer maaßloſen Leidenſchaft zum Vorſchein kam, und da¬<lb/>
durch jeder tieferen Bedeutung verluſtig ging, beweiſet nur ſo<lb/></p></div></body></text></TEI>
[98/0106]
Reiſen unternommen, um die Menſchen zu bekehren, jetzt muͤſſe
ſie ihm nachfolgen.
Ueberblickt man die bisher gegebene pathogenetiſche Dar¬
ſtellung, ſo kann man ſich einer Ruͤhrung daruͤber nicht er¬
wehren, daß in allen Menſchenſeelen die Keime des Schoͤnſten
und Edelſten liegen, aber wegen aͤußerer Hinderniſſe nicht zur
Entwickelung kommen, und deshalb, wenn erſchuͤtternde Er¬
eigniſſe den Wahn erzeugt, und durch ihn die innerſten Tiefen
des Gemuͤths aufgewuͤhlt haben, in ihrer erzwungenen Anregung
nur verkuͤmmern koͤnnen. Eine Magd, in den untergeordnet¬
ſten Verhaͤltniſſen lebend, von mannigfacher Noth und Truͤbſal
bedraͤngt, von welcher ſie aus Mangel an kraͤftiger Selbſtbe¬
ſtimmung ſich nicht befreien, und deshalb uͤber die materiellſten
Verhaͤltniſſe nicht zu einem freieren Selbſtbewußtſein ſich er¬
heben kann, wird von einer Liebe ergriffen, welche ſchon von
vorn herein die Moͤglichkeit jeder Erfuͤllung ihrer Sehnſucht
ausſchließt, und deshalb ſogleich einen idealen Charakter an¬
nehmen muß. Ein tragiſches Geſchick, welches jede fernere
Taͤuſchung haͤtte zerſtoͤren muͤſſen, bringt dieſe Wirkung nicht
hervor, da die Liebe dem Gemuͤth ſo nothwendig geworden
war, daß ſie den Wahnſinn nicht ſcheute, und unter anderen
Verhaͤltniſſen wahrſcheinlich dem Tode nicht ausgewichen ſein
wuͤrde, um ſich ſelbſt fuͤr dieſen Preis im Bewußtſein zu be¬
haupten. Im Innerſten ergriffen und raſtlos bewegt, erhebt
die Kranke ſich durch eine maͤchtige Steigerung ihrer Seelen¬
kraͤfte zu allgemeinen Weltanſchauungen und zur Vorſtellung
der hoͤchſten Lebensintereſſen, von denen ſie fruͤher ſchwerlich die
leiſeſte Ahnung hatte; ſie fuͤhlt die Verderbniß der Welt nicht
allein in dem beſchraͤnkten Sinne, daß ſie darunter zu leiden
habe, ſondern in der Erkenntniß, daß derſelben Einhalt gethan
werden muͤſſe, und mit liebetrunkener Phantaſie ſchwaͤrmend,
entwickelt ſie ein poetiſches Talent, welches in einer Fuͤlle dich¬
teriſcher Bilder ſchwelgend die Erloͤſung des Menſchengeſchlechts
durch die an ihr und an ihrem Geliebten offenbarte Gnaden¬
wirkung Gottes zu einer uͤberſchwenglichen Seeligkeit verheißt.
Daß alles dies in wahnſinniger Verzerrung unter den Zuckun¬
gen einer maaßloſen Leidenſchaft zum Vorſchein kam, und da¬
durch jeder tieferen Bedeutung verluſtig ging, beweiſet nur ſo
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/106>, abgerufen am 26.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.