Jahren verstorbenen Mutter sei ihre Ausstattung im Himmel besorgt worden, auch habe Gott ihren Lebenswandel gesehen, und da sie aus freiem Willen gut gewesen, so habe es ihre Mutter durch eifriges Gebet zu Gott dahin gebracht, daß es für sie und die ganze Welt besser werde. Sie wähnte, der Verstorbene werde durch die Wolken kommen, sie abzuholen, und er werde ihr die Siegerkrone und den Ehrenstab mit den Worten reichen: "Wohl dir du Kind der Treue, du hast und trägst davon mit Ruhm und Dankgeschreie den Sieg, die Eh¬ renkron. Gott giebt dir selbst die Palme in deine rechte Hand, und du fingst Freudenpsalme Dem, der dein Leid gewandt." Sie war von dieser bevorstehenden übernatürlichen Erscheinung des Geliebten dergestalt überzeugt, daß sie die Gärtnerin ein¬ lud, nach den Linden zu kommen, wo sich etwas Großes er¬ eignen werde, und fügte hinzu, wenn es frühe regnet und hierauf stürmt, so folgt endlich Sonnenschein, Gott habe sie erst prüfen und dann belohnen wollen.
Da aber der Erwartete immer nicht kam, so wurde sie von großer Angst unbefriedigter Sehnsucht überfallen, sie litt oft an betäubendem, heftigem Kopfschmerz, konnte nicht mehr ruhig schlafen, schreckte oft aus ihren Träumen auf, verlor den Appetit, und ihre Körperkräfte wurden nur noch durch die krampfhafte Spannung der Leidenschaften aufrecht erhalten. Auch war es schon so weit mit ihr gekommen, daß sie ihre Arbeiten versäumte, und ihre Herrschaft ihr den Dienst auf¬ kündigen mußte. Anfangs fiel es ihr gar nicht ein, sich um einen neuen zu bewerben, denn sie war überzeugt, der Ver¬ storbene werde bald wiederkehren und sie heirathen. Später bemühte sie sich doch um einen neuen Dienst; da aber diejeni¬ gen, bei denen sie sich meldete, sich nicht bei ihrer bisherigen Herrschaft nach ihrem Betragen erkundigten, so glaubte sie, es sei schon allgemein bekannt, daß der Verstorbene sie nach Tyrol abholen werde. Mit jedem Tage steigerte sich ihre lei¬ denschaftliche Spannung, und hieraus entsprang eine Ideen¬ association, welche sich so häufig bei Schwermüthigen entwik¬ kelt, welche im Gefühl ihrer Leiden eine Strafe Gottes für ihre Sünden erblicken. Die M. hegte daher die Ueberzeugung, sie sei in Sünden geboren, müsse in Sünden umkommen, weil
Jahren verſtorbenen Mutter ſei ihre Ausſtattung im Himmel beſorgt worden, auch habe Gott ihren Lebenswandel geſehen, und da ſie aus freiem Willen gut geweſen, ſo habe es ihre Mutter durch eifriges Gebet zu Gott dahin gebracht, daß es fuͤr ſie und die ganze Welt beſſer werde. Sie waͤhnte, der Verſtorbene werde durch die Wolken kommen, ſie abzuholen, und er werde ihr die Siegerkrone und den Ehrenſtab mit den Worten reichen: „Wohl dir du Kind der Treue, du haſt und traͤgſt davon mit Ruhm und Dankgeſchreie den Sieg, die Eh¬ renkron. Gott giebt dir ſelbſt die Palme in deine rechte Hand, und du fingst Freudenpſalme Dem, der dein Leid gewandt.” Sie war von dieſer bevorſtehenden uͤbernatuͤrlichen Erſcheinung des Geliebten dergeſtalt uͤberzeugt, daß ſie die Gaͤrtnerin ein¬ lud, nach den Linden zu kommen, wo ſich etwas Großes er¬ eignen werde, und fuͤgte hinzu, wenn es fruͤhe regnet und hierauf ſtuͤrmt, ſo folgt endlich Sonnenſchein, Gott habe ſie erſt pruͤfen und dann belohnen wollen.
Da aber der Erwartete immer nicht kam, ſo wurde ſie von großer Angſt unbefriedigter Sehnſucht uͤberfallen, ſie litt oft an betaͤubendem, heftigem Kopfſchmerz, konnte nicht mehr ruhig ſchlafen, ſchreckte oft aus ihren Traͤumen auf, verlor den Appetit, und ihre Koͤrperkraͤfte wurden nur noch durch die krampfhafte Spannung der Leidenſchaften aufrecht erhalten. Auch war es ſchon ſo weit mit ihr gekommen, daß ſie ihre Arbeiten verſaͤumte, und ihre Herrſchaft ihr den Dienſt auf¬ kuͤndigen mußte. Anfangs fiel es ihr gar nicht ein, ſich um einen neuen zu bewerben, denn ſie war uͤberzeugt, der Ver¬ ſtorbene werde bald wiederkehren und ſie heirathen. Spaͤter bemuͤhte ſie ſich doch um einen neuen Dienſt; da aber diejeni¬ gen, bei denen ſie ſich meldete, ſich nicht bei ihrer bisherigen Herrſchaft nach ihrem Betragen erkundigten, ſo glaubte ſie, es ſei ſchon allgemein bekannt, daß der Verſtorbene ſie nach Tyrol abholen werde. Mit jedem Tage ſteigerte ſich ihre lei¬ denſchaftliche Spannung, und hieraus entſprang eine Ideen¬ aſſociation, welche ſich ſo haͤufig bei Schwermuͤthigen entwik¬ kelt, welche im Gefuͤhl ihrer Leiden eine Strafe Gottes fuͤr ihre Suͤnden erblicken. Die M. hegte daher die Ueberzeugung, ſie ſei in Suͤnden geboren, muͤſſe in Suͤnden umkommen, weil
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Jahren verſtorbenen Mutter ſei ihre Ausſtattung im Himmel
beſorgt worden, auch habe Gott ihren Lebenswandel geſehen,
und da ſie aus freiem Willen gut geweſen, ſo habe es ihre
Mutter durch eifriges Gebet zu Gott dahin gebracht, daß es
fuͤr ſie und die ganze Welt beſſer werde. Sie waͤhnte, der
Verſtorbene werde durch die Wolken kommen, ſie abzuholen,
und er werde ihr die Siegerkrone und den Ehrenſtab mit den
Worten reichen: „Wohl dir du Kind der Treue, du haſt und
traͤgſt davon mit Ruhm und Dankgeſchreie den Sieg, die Eh¬
renkron. Gott giebt dir ſelbſt die Palme in deine rechte Hand,
und du fingst Freudenpſalme Dem, der dein Leid gewandt.”
Sie war von dieſer bevorſtehenden uͤbernatuͤrlichen Erſcheinung
des Geliebten dergeſtalt uͤberzeugt, daß ſie die Gaͤrtnerin ein¬
lud, nach den Linden zu kommen, wo ſich etwas Großes er¬
eignen werde, und fuͤgte hinzu, wenn es fruͤhe regnet und
hierauf ſtuͤrmt, ſo folgt endlich Sonnenſchein, Gott habe
ſie erſt pruͤfen und dann belohnen wollen.
Da aber der Erwartete immer nicht kam, ſo wurde ſie
von großer Angſt unbefriedigter Sehnſucht uͤberfallen, ſie litt
oft an betaͤubendem, heftigem Kopfſchmerz, konnte nicht mehr
ruhig ſchlafen, ſchreckte oft aus ihren Traͤumen auf, verlor
den Appetit, und ihre Koͤrperkraͤfte wurden nur noch durch
die krampfhafte Spannung der Leidenſchaften aufrecht erhalten.
Auch war es ſchon ſo weit mit ihr gekommen, daß ſie ihre
Arbeiten verſaͤumte, und ihre Herrſchaft ihr den Dienſt auf¬
kuͤndigen mußte. Anfangs fiel es ihr gar nicht ein, ſich um
einen neuen zu bewerben, denn ſie war uͤberzeugt, der Ver¬
ſtorbene werde bald wiederkehren und ſie heirathen. Spaͤter
bemuͤhte ſie ſich doch um einen neuen Dienſt; da aber diejeni¬
gen, bei denen ſie ſich meldete, ſich nicht bei ihrer bisherigen
Herrſchaft nach ihrem Betragen erkundigten, ſo glaubte ſie,
es ſei ſchon allgemein bekannt, daß der Verſtorbene ſie nach
Tyrol abholen werde. Mit jedem Tage ſteigerte ſich ihre lei¬
denſchaftliche Spannung, und hieraus entſprang eine Ideen¬
aſſociation, welche ſich ſo haͤufig bei Schwermuͤthigen entwik¬
kelt, welche im Gefuͤhl ihrer Leiden eine Strafe Gottes fuͤr
ihre Suͤnden erblicken. Die M. hegte daher die Ueberzeugung,
ſie ſei in Suͤnden geboren, muͤſſe in Suͤnden umkommen, weil
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Ideler, Karl Wilhelm: Der religiöse Wahnsinn, erläutert durch Krankengeschichten. Ein Beitrag zur Geschichte der religiösen Wirren der Gegenwart. Halle (Saale), 1847, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ideler_wahnsinn_1847/100>, abgerufen am 16.02.2025.
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