Humboldt, Alexander von: Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. Eine Erzählung. In: Die Horen. Eine Monatsschrift. Bd. 1. Tübingen, 1795, S. 90-96."Betrachtet nun das neue Kunstwerk, welches der "Geh Polykles und sage dem Tyrannen, was du ge- „Betrachtet nun das neue Kunſtwerk, welches der „Geh Polykles und ſage dem Tyrannen, was du ge- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0009" n="96"/> <p>„Betrachtet nun das neue Kunſtwerk, welches der<lb/> „Tyrann mir zur Auslegung geſandt; richtet Eure Au-<lb/> „gen vom Bilde des Lebens ab, auf das Bild des Todes.<lb/> „Aufwaͤrts weggeflohen iſt der Schmetterling, ausgelo-<lb/> „dert die umgekehrte Fackel, geſenkt das Haupt des Juͤng-<lb/> „lings. Der Geiſt iſt in andre Sphaͤren entwichen, die<lb/> „Lebenskraft erſtorben. Nun reichen ſich Juͤnglinge und<lb/> „Maͤdchen froͤlich die Haͤnde. Nun treten die irrdiſchen<lb/> „Stoffe in ihre Rechte ein. Der Feſſeln entbunden fol-<lb/> „gen ſie wild, nach langer Entbehrung, ihrem geſelligen<lb/> „Triebe, und der Tag des Todes wird ihnen ein braͤut-<lb/> „licher Tag. — So gieng die todte Materie von Lebens-<lb/> „kraft beſeelt, durch eine zahlloſe Reihe von Geſchlechtern,<lb/> „und derſelbe Stoff umhuͤllte vielleicht den goͤttlichen<lb/> „Geiſt des Pythagoras, in dem vormals ein duͤrftiger<lb/> „Wurm im augenblicklichen Genuſſe ſich ſeines Daſeyns<lb/> „freute!”</p><lb/> <p>„Geh Polykles und ſage dem Tyrannen, was du ge-<lb/> „hoͤrt haſt. Und Jhr, meine Lieben, Phradman und<lb/> „Skopas und Timokles tretet naͤher und naͤher zu mir.<lb/> „Jch fuͤhle, daß die ſchwache Lebenskraft auch in mir<lb/> „den irrdiſchen Stoff nicht lange mehr zaͤhmen wird. Auch<lb/> „er fordert ſeine Freyheit wieder. Fuͤhrt mich noch einmal<lb/> „in den Poikile, und von da ans offene Geſtade. Bald<lb/> „werdet ihr meine Aſche ſammlen!”</p> </div><lb/> </body> </text> </TEI> [96/0009]
„Betrachtet nun das neue Kunſtwerk, welches der
„Tyrann mir zur Auslegung geſandt; richtet Eure Au-
„gen vom Bilde des Lebens ab, auf das Bild des Todes.
„Aufwaͤrts weggeflohen iſt der Schmetterling, ausgelo-
„dert die umgekehrte Fackel, geſenkt das Haupt des Juͤng-
„lings. Der Geiſt iſt in andre Sphaͤren entwichen, die
„Lebenskraft erſtorben. Nun reichen ſich Juͤnglinge und
„Maͤdchen froͤlich die Haͤnde. Nun treten die irrdiſchen
„Stoffe in ihre Rechte ein. Der Feſſeln entbunden fol-
„gen ſie wild, nach langer Entbehrung, ihrem geſelligen
„Triebe, und der Tag des Todes wird ihnen ein braͤut-
„licher Tag. — So gieng die todte Materie von Lebens-
„kraft beſeelt, durch eine zahlloſe Reihe von Geſchlechtern,
„und derſelbe Stoff umhuͤllte vielleicht den goͤttlichen
„Geiſt des Pythagoras, in dem vormals ein duͤrftiger
„Wurm im augenblicklichen Genuſſe ſich ſeines Daſeyns
„freute!”
„Geh Polykles und ſage dem Tyrannen, was du ge-
„hoͤrt haſt. Und Jhr, meine Lieben, Phradman und
„Skopas und Timokles tretet naͤher und naͤher zu mir.
„Jch fuͤhle, daß die ſchwache Lebenskraft auch in mir
„den irrdiſchen Stoff nicht lange mehr zaͤhmen wird. Auch
„er fordert ſeine Freyheit wieder. Fuͤhrt mich noch einmal
„in den Poikile, und von da ans offene Geſtade. Bald
„werdet ihr meine Aſche ſammlen!”
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_lebenskraft_1795 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_lebenskraft_1795/9 |
Zitationshilfe: | Humboldt, Alexander von: Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. Eine Erzählung. In: Die Horen. Eine Monatsschrift. Bd. 1. Tübingen, 1795, S. 90-96, hier S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_lebenskraft_1795/9>, abgerufen am 27.07.2024. |