Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. Eine Erzählung. In: Die Horen. Eine Monatsschrift. Bd. 1. Tübingen, 1795, S. 90-96.

Bild:
<< vorherige Seite


vergebens strebte. Er ward von dem niedern Volke und
doch auch von dem Tyrannen geehrt. Diesem wich er aus,
wie er jenem freudig entgegen kam.

Epicharmus lag entkräftet auf seinem Ruhebette, als
der Befehl des Dionysius ihm das neue Kunstwerk sand-
te. Man hatte Sorge getragen ihm eine treue Kopie des
Rhodischen Genius mit zu überbringen, und der Philo-
soph ließ beyde neben einander vor sich stellen. Sein Blick
war lange auf ihnen geheftet, dann rief er seine Schüler
zusammen und hub mit gerührter Stimme an:

"Reißt den Vorhang vor dem Fenster hinweg, daß
"ich mich noch einmal weide an dem Anblick der reichbe-
"lebten lebendigen Erde. Sechzig Jahre lang habe ich
"über die innern Triebräder der Natur, über den Unter-
"schied der Stoffe gesonnen und erst heute läßt der Rho-
"dische Genius mich klarer sehen, was ich sonst nur ahne-
"te. Wenn der Unterschied der Geschlechter lebendige We-
"sen wohlthätig und fruchtbar aneinander kettet, so wird
"in der unorganischen Natur der rohe Stoff von gleichen
"Trieben bewegt. Schon im dunkeln Chaos häufte sich
"die Materie und mied sich, je nachdem Freundschaft
"oder Feindschaft sie anzog oder abstieß. Das himmlische
"Feuer folgt den Metallen, der Magnet dem Eisen; das
"geriebene Elektrum bewegt leichte Stoffe; Erde mischt
"sich zur Erde; das Kochsalz gerinnt aus dem Meere zu-
"sammen und die Säure der Stüptärie * strebt, sich mit dem
"Thone zu verbinden. Alles eilt in der unbelebten Natur
"sich zu dem seinen zu gesellen. Kein irrdischer Stoff

* Alaun. -- Schwefelsäure, den Alten bekannt.


vergebens ſtrebte. Er ward von dem niedern Volke und
doch auch von dem Tyrannen geehrt. Dieſem wich er aus,
wie er jenem freudig entgegen kam.

Epicharmus lag entkraͤftet auf ſeinem Ruhebette, als
der Befehl des Dionyſius ihm das neue Kunſtwerk ſand-
te. Man hatte Sorge getragen ihm eine treue Kopie des
Rhodiſchen Genius mit zu uͤberbringen, und der Philo-
ſoph ließ beyde neben einander vor ſich ſtellen. Sein Blick
war lange auf ihnen geheftet, dann rief er ſeine Schuͤler
zuſammen und hub mit geruͤhrter Stimme an:

„Reißt den Vorhang vor dem Fenſter hinweg, daß
„ich mich noch einmal weide an dem Anblick der reichbe-
„lebten lebendigen Erde. Sechzig Jahre lang habe ich
„uͤber die innern Triebraͤder der Natur, uͤber den Unter-
„ſchied der Stoffe geſonnen und erſt heute laͤßt der Rho-
„diſche Genius mich klarer ſehen, was ich ſonſt nur ahne-
„te. Wenn der Unterſchied der Geſchlechter lebendige We-
„ſen wohlthaͤtig und fruchtbar aneinander kettet, ſo wird
„in der unorganiſchen Natur der rohe Stoff von gleichen
„Trieben bewegt. Schon im dunkeln Chaos haͤufte ſich
„die Materie und mied ſich, je nachdem Freundſchaft
„oder Feindſchaft ſie anzog oder abſtieß. Das himmliſche
„Feuer folgt den Metallen, der Magnet dem Eiſen; das
„geriebene Elektrum bewegt leichte Stoffe; Erde miſcht
„ſich zur Erde; das Kochſalz gerinnt aus dem Meere zu-
„ſammen und die Saͤure der Stuͤptaͤrie * ſtrebt, ſich mit dem
„Thone zu verbinden. Alles eilt in der unbelebten Natur
„ſich zu dem ſeinen zu geſellen. Kein irrdiſcher Stoff

* Alaun. — Schwefelſaͤure, den Alten bekannt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0007" n="94"/><lb/>
vergebens &#x017F;trebte. Er ward von dem niedern Volke und<lb/>
doch auch von dem Tyrannen geehrt. Die&#x017F;em wich er aus,<lb/>
wie er jenem freudig entgegen kam.</p><lb/>
        <p>Epicharmus lag entkra&#x0364;ftet auf &#x017F;einem Ruhebette, als<lb/>
der Befehl des Diony&#x017F;ius ihm das neue Kun&#x017F;twerk &#x017F;and-<lb/>
te. Man hatte Sorge getragen ihm eine treue Kopie des<lb/>
Rhodi&#x017F;chen Genius mit zu u&#x0364;berbringen, und der Philo-<lb/>
&#x017F;oph ließ beyde neben einander vor &#x017F;ich &#x017F;tellen. Sein Blick<lb/>
war lange auf ihnen geheftet, dann rief er &#x017F;eine Schu&#x0364;ler<lb/>
zu&#x017F;ammen und hub mit geru&#x0364;hrter Stimme an:</p><lb/>
        <p>&#x201E;Reißt den Vorhang vor dem Fen&#x017F;ter hinweg, daß<lb/>
&#x201E;ich mich noch einmal weide an dem Anblick der reichbe-<lb/>
&#x201E;lebten lebendigen Erde. Sechzig Jahre lang habe ich<lb/>
&#x201E;u&#x0364;ber die innern Triebra&#x0364;der der Natur, u&#x0364;ber den Unter-<lb/>
&#x201E;&#x017F;chied der Stoffe ge&#x017F;onnen und er&#x017F;t heute la&#x0364;ßt der Rho-<lb/>
&#x201E;di&#x017F;che Genius mich klarer &#x017F;ehen, was ich &#x017F;on&#x017F;t nur ahne-<lb/>
&#x201E;te. Wenn der Unter&#x017F;chied der Ge&#x017F;chlechter lebendige We-<lb/>
&#x201E;&#x017F;en wohltha&#x0364;tig und fruchtbar aneinander kettet, &#x017F;o wird<lb/>
&#x201E;in der unorgani&#x017F;chen Natur der rohe Stoff von gleichen<lb/>
&#x201E;Trieben bewegt. Schon im dunkeln Chaos ha&#x0364;ufte &#x017F;ich<lb/>
&#x201E;die Materie und mied &#x017F;ich, je nachdem Freund&#x017F;chaft<lb/>
&#x201E;oder Feind&#x017F;chaft &#x017F;ie anzog oder ab&#x017F;tieß. Das himmli&#x017F;che<lb/>
&#x201E;Feuer folgt den Metallen, der Magnet dem Ei&#x017F;en; das<lb/>
&#x201E;geriebene Elektrum bewegt leichte Stoffe; Erde mi&#x017F;cht<lb/>
&#x201E;&#x017F;ich zur Erde; das Koch&#x017F;alz gerinnt aus dem Meere zu-<lb/>
&#x201E;&#x017F;ammen und die Sa&#x0364;ure der Stu&#x0364;pta&#x0364;rie <note place="foot" n="*">Alaun. &#x2014; Schwefel&#x017F;a&#x0364;ure, den Alten bekannt.</note> &#x017F;trebt, &#x017F;ich mit dem<lb/>
&#x201E;Thone zu verbinden. Alles eilt in der unbelebten Natur<lb/>
&#x201E;&#x017F;ich zu dem &#x017F;einen zu ge&#x017F;ellen. Kein irrdi&#x017F;cher Stoff<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[94/0007] vergebens ſtrebte. Er ward von dem niedern Volke und doch auch von dem Tyrannen geehrt. Dieſem wich er aus, wie er jenem freudig entgegen kam. Epicharmus lag entkraͤftet auf ſeinem Ruhebette, als der Befehl des Dionyſius ihm das neue Kunſtwerk ſand- te. Man hatte Sorge getragen ihm eine treue Kopie des Rhodiſchen Genius mit zu uͤberbringen, und der Philo- ſoph ließ beyde neben einander vor ſich ſtellen. Sein Blick war lange auf ihnen geheftet, dann rief er ſeine Schuͤler zuſammen und hub mit geruͤhrter Stimme an: „Reißt den Vorhang vor dem Fenſter hinweg, daß „ich mich noch einmal weide an dem Anblick der reichbe- „lebten lebendigen Erde. Sechzig Jahre lang habe ich „uͤber die innern Triebraͤder der Natur, uͤber den Unter- „ſchied der Stoffe geſonnen und erſt heute laͤßt der Rho- „diſche Genius mich klarer ſehen, was ich ſonſt nur ahne- „te. Wenn der Unterſchied der Geſchlechter lebendige We- „ſen wohlthaͤtig und fruchtbar aneinander kettet, ſo wird „in der unorganiſchen Natur der rohe Stoff von gleichen „Trieben bewegt. Schon im dunkeln Chaos haͤufte ſich „die Materie und mied ſich, je nachdem Freundſchaft „oder Feindſchaft ſie anzog oder abſtieß. Das himmliſche „Feuer folgt den Metallen, der Magnet dem Eiſen; das „geriebene Elektrum bewegt leichte Stoffe; Erde miſcht „ſich zur Erde; das Kochſalz gerinnt aus dem Meere zu- „ſammen und die Saͤure der Stuͤptaͤrie * ſtrebt, ſich mit dem „Thone zu verbinden. Alles eilt in der unbelebten Natur „ſich zu dem ſeinen zu geſellen. Kein irrdiſcher Stoff * Alaun. — Schwefelſaͤure, den Alten bekannt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Weitere Informationen:

Eine weitere Fassung dieses Textes finden Sie in der Ausgabe Sämtliche Schriften digital (2021 ff.) der Universität Bern.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_lebenskraft_1795
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_lebenskraft_1795/7
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Die Lebenskraft oder der Rhodische Genius. Eine Erzählung. In: Die Horen. Eine Monatsschrift. Bd. 1. Tübingen, 1795, S. 90-96, hier S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_lebenskraft_1795/7>, abgerufen am 25.11.2024.