Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1847.

Bild:
<< vorherige Seite

mit Hoffnungen genährt, deren Täuschung oft spät erst eintritt, wähnt jedes Zeitalter dem Culminationspunkte im Erkennen und Verstehen der Natur nahe gelangt zu sein. Ich bezweifle, daß bei ernstem Nachdenken ein solcher Glaube den Genuß der Gegenwart wahrhaft erhöhe. Belebender und der Idee von der großen Bestimmung unseres Geschlechtes angemessener ist die Ueberzeugung, daß der eroberte Besitz nur ein sehr unbeträchtlicher Theil von dem ist, was bei fortschreitender Thätigkeit und gemeinsamer Ausbildung die freie Menschheit in den kommenden Jahrhunderten erringen wird. Jedes Erforschte ist nur eine Stufe zu etwas Höherem in dem verhängnißvollen Laufe der Dinge.

Was die Fortschritte der Erkenntniß in dem neunzehnten Jahrhundert besonders befördert und den Hauptcharakter der Zeit gebildet hat, ist das allgemeine und erfolgreiche Bemühen den Blick nicht auf das Neu-Errungene zu beschränken, sondern alles früher Berührte nach Maaß und Gewicht streng zu prüfen, das bloß aus Analogien Geschlossene von dem Gewissen zu sondern, und so einer und derselben strengen kritischen Methode alle Theile des Wissens, physikalische Astronomie, Studium der irdischen Naturkräfte, Geologie und Alterthumskunde zu unterwerfen. Die Allgemeinheit eines solchen kritischen Verfahrens hat besonders dazu beigetragen die jedesmaligen Grenzen der einzelnen Wissenschaften kenntlich zu machen, ja die Schwäche gewisser Disciplinen aufzudecken, in denen unbegründete Meinungen als Thatsachen, symbolisirende Mythen unter alten Firmen als ernste Theorien auftreten. Unbestimmtheit der Sprache, Uebertragung der Nomenclatur aus einer Wissenschaft in die andere haben zu irrigen Ansichten, zu täuschenden

mit Hoffnungen genährt, deren Täuschung oft spät erst eintritt, wähnt jedes Zeitalter dem Culminationspunkte im Erkennen und Verstehen der Natur nahe gelangt zu sein. Ich bezweifle, daß bei ernstem Nachdenken ein solcher Glaube den Genuß der Gegenwart wahrhaft erhöhe. Belebender und der Idee von der großen Bestimmung unseres Geschlechtes angemessener ist die Ueberzeugung, daß der eroberte Besitz nur ein sehr unbeträchtlicher Theil von dem ist, was bei fortschreitender Thätigkeit und gemeinsamer Ausbildung die freie Menschheit in den kommenden Jahrhunderten erringen wird. Jedes Erforschte ist nur eine Stufe zu etwas Höherem in dem verhängnißvollen Laufe der Dinge.

Was die Fortschritte der Erkenntniß in dem neunzehnten Jahrhundert besonders befördert und den Hauptcharakter der Zeit gebildet hat, ist das allgemeine und erfolgreiche Bemühen den Blick nicht auf das Neu-Errungene zu beschränken, sondern alles früher Berührte nach Maaß und Gewicht streng zu prüfen, das bloß aus Analogien Geschlossene von dem Gewissen zu sondern, und so einer und derselben strengen kritischen Methode alle Theile des Wissens, physikalische Astronomie, Studium der irdischen Naturkräfte, Geologie und Alterthumskunde zu unterwerfen. Die Allgemeinheit eines solchen kritischen Verfahrens hat besonders dazu beigetragen die jedesmaligen Grenzen der einzelnen Wissenschaften kenntlich zu machen, ja die Schwäche gewisser Disciplinen aufzudecken, in denen unbegründete Meinungen als Thatsachen, symbolisirende Mythen unter alten Firmen als ernste Theorien auftreten. Unbestimmtheit der Sprache, Uebertragung der Nomenclatur aus einer Wissenschaft in die andere haben zu irrigen Ansichten, zu täuschenden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0404" n="399"/>
mit Hoffnungen genährt, deren Täuschung oft spät erst eintritt, wähnt jedes Zeitalter dem Culminationspunkte im Erkennen und Verstehen der Natur nahe gelangt zu sein. Ich bezweifle, daß bei ernstem Nachdenken ein solcher Glaube den Genuß der Gegenwart wahrhaft erhöhe. Belebender und der Idee von der großen Bestimmung unseres Geschlechtes angemessener ist die Ueberzeugung, daß der eroberte Besitz nur ein sehr unbeträchtlicher Theil von dem ist, was bei fortschreitender Thätigkeit und gemeinsamer Ausbildung die freie Menschheit in den kommenden Jahrhunderten erringen wird. Jedes Erforschte ist nur eine Stufe zu etwas Höherem in dem verhängnißvollen Laufe der Dinge.</p>
              <p>Was die Fortschritte der Erkenntniß in dem neunzehnten Jahrhundert besonders befördert und den Hauptcharakter der Zeit gebildet hat, ist das allgemeine und erfolgreiche Bemühen den Blick nicht auf das Neu-Errungene zu beschränken, sondern alles früher Berührte nach Maaß und Gewicht streng zu prüfen, das bloß aus Analogien Geschlossene von dem Gewissen zu sondern, und so einer und derselben strengen kritischen Methode alle Theile des Wissens, physikalische Astronomie, Studium der irdischen Naturkräfte, Geologie und Alterthumskunde zu unterwerfen. Die Allgemeinheit eines solchen kritischen Verfahrens hat besonders dazu beigetragen die jedesmaligen Grenzen der einzelnen Wissenschaften kenntlich zu machen, ja die Schwäche gewisser Disciplinen aufzudecken, in denen unbegründete Meinungen als Thatsachen, symbolisirende Mythen unter alten Firmen als ernste Theorien auftreten. Unbestimmtheit der Sprache, Uebertragung der Nomenclatur aus einer Wissenschaft in die andere haben zu irrigen Ansichten, zu täuschenden
</p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[399/0404] mit Hoffnungen genährt, deren Täuschung oft spät erst eintritt, wähnt jedes Zeitalter dem Culminationspunkte im Erkennen und Verstehen der Natur nahe gelangt zu sein. Ich bezweifle, daß bei ernstem Nachdenken ein solcher Glaube den Genuß der Gegenwart wahrhaft erhöhe. Belebender und der Idee von der großen Bestimmung unseres Geschlechtes angemessener ist die Ueberzeugung, daß der eroberte Besitz nur ein sehr unbeträchtlicher Theil von dem ist, was bei fortschreitender Thätigkeit und gemeinsamer Ausbildung die freie Menschheit in den kommenden Jahrhunderten erringen wird. Jedes Erforschte ist nur eine Stufe zu etwas Höherem in dem verhängnißvollen Laufe der Dinge. Was die Fortschritte der Erkenntniß in dem neunzehnten Jahrhundert besonders befördert und den Hauptcharakter der Zeit gebildet hat, ist das allgemeine und erfolgreiche Bemühen den Blick nicht auf das Neu-Errungene zu beschränken, sondern alles früher Berührte nach Maaß und Gewicht streng zu prüfen, das bloß aus Analogien Geschlossene von dem Gewissen zu sondern, und so einer und derselben strengen kritischen Methode alle Theile des Wissens, physikalische Astronomie, Studium der irdischen Naturkräfte, Geologie und Alterthumskunde zu unterwerfen. Die Allgemeinheit eines solchen kritischen Verfahrens hat besonders dazu beigetragen die jedesmaligen Grenzen der einzelnen Wissenschaften kenntlich zu machen, ja die Schwäche gewisser Disciplinen aufzudecken, in denen unbegründete Meinungen als Thatsachen, symbolisirende Mythen unter alten Firmen als ernste Theorien auftreten. Unbestimmtheit der Sprache, Uebertragung der Nomenclatur aus einer Wissenschaft in die andere haben zu irrigen Ansichten, zu täuschenden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Posner Collection: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-01-09T11:04:31Z)
Moritz Bodner: Erstellung bzw. Korrektur der griechischen Textpassagen (2013-04-18T11:04:31Z)



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos02_1847
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos02_1847/404
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 2. Stuttgart u. a., 1847, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos02_1847/404>, abgerufen am 22.11.2024.