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Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1845.

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unter bestimmten Bedingnissen, nach leitenden Hypothesen, d. h. nach dem Vorgefühl von dem inneren Zusammenhange der Natur-Dinge und Natur-Kräfte. Was durch Beobachtung und Experiment erlangt ist, führt, auf Analogien und Induction gegründet, zur Erkenntniß empirischer Gesetze. Das sind die Phasen, gleichsam die Momente, welche der beobachtende Verstand durchläuft und die in der Geschichte des Naturwissens der Völker besondere Epochen bezeichnen.

Zwei Formen der Abstraction beherrschen die ganze Masse der Erkenntniß, quantitative, Verhältnißbestimmungen nach Zahl und Größe, und qualitative, stoffartige Beschaffenheiten. Die erstere, zugänglichere Form gehört dem mathematischen, die zweite dem chemischen Wissen an. Um die Erscheinungen dem Calcul zu unterwerfen, wird die Materie aus Atomen (Moleculen) construirt, deren Zahl, Form, Lage und Polarität die Erscheinungen bedingen soll. Die Mythen von imponderablen Stoffen und von eigenen Lebenskräften in jeglichem Organismus verwickeln und trüben die Ansicht der Natur. Unter so verschiedenartigen Bedingnissen und Formen des Erkennens bewegt sich träge die schwere Last unseres angehäuften und jetzt so schnell anwachsenden empirischen Wissens. Die grübelnde Vernunft versucht muthvoll und mit wechselndem Glücke, die alten Formen zu zerbrechen, durch welche man den widerstrebenden Stoff wie durch mechanische Constructionen und Sinnbilder, zu beherrschen gewohnt ist.

Wir sind noch weit von dem Zeitpunkte entfernt, wo es möglich sein könnte, alle unsere sinnlichen Anschauungen zur Einheit des Naturbegriffs zu concentriren. Es darf zweifelhaft genannt werden, ob dieser Zeitpunkt je heran-

unter bestimmten Bedingnissen, nach leitenden Hypothesen, d. h. nach dem Vorgefühl von dem inneren Zusammenhange der Natur-Dinge und Natur-Kräfte. Was durch Beobachtung und Experiment erlangt ist, führt, auf Analogien und Induction gegründet, zur Erkenntniß empirischer Gesetze. Das sind die Phasen, gleichsam die Momente, welche der beobachtende Verstand durchläuft und die in der Geschichte des Naturwissens der Völker besondere Epochen bezeichnen.

Zwei Formen der Abstraction beherrschen die ganze Masse der Erkenntniß, quantitative, Verhältnißbestimmungen nach Zahl und Größe, und qualitative, stoffartige Beschaffenheiten. Die erstere, zugänglichere Form gehört dem mathematischen, die zweite dem chemischen Wissen an. Um die Erscheinungen dem Calcul zu unterwerfen, wird die Materie aus Atomen (Moleculen) construirt, deren Zahl, Form, Lage und Polarität die Erscheinungen bedingen soll. Die Mythen von imponderablen Stoffen und von eigenen Lebenskräften in jeglichem Organismus verwickeln und trüben die Ansicht der Natur. Unter so verschiedenartigen Bedingnissen und Formen des Erkennens bewegt sich träge die schwere Last unseres angehäuften und jetzt so schnell anwachsenden empirischen Wissens. Die grübelnde Vernunft versucht muthvoll und mit wechselndem Glücke, die alten Formen zu zerbrechen, durch welche man den widerstrebenden Stoff wie durch mechanische Constructionen und Sinnbilder, zu beherrschen gewohnt ist.

Wir sind noch weit von dem Zeitpunkte entfernt, wo es möglich sein könnte, alle unsere sinnlichen Anschauungen zur Einheit des Naturbegriffs zu concentriren. Es darf zweifelhaft genannt werden, ob dieser Zeitpunkt je heran-

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[67/0086] unter bestimmten Bedingnissen, nach leitenden Hypothesen, d. h. nach dem Vorgefühl von dem inneren Zusammenhange der Natur-Dinge und Natur-Kräfte. Was durch Beobachtung und Experiment erlangt ist, führt, auf Analogien und Induction gegründet, zur Erkenntniß empirischer Gesetze. Das sind die Phasen, gleichsam die Momente, welche der beobachtende Verstand durchläuft und die in der Geschichte des Naturwissens der Völker besondere Epochen bezeichnen. Zwei Formen der Abstraction beherrschen die ganze Masse der Erkenntniß, quantitative, Verhältnißbestimmungen nach Zahl und Größe, und qualitative, stoffartige Beschaffenheiten. Die erstere, zugänglichere Form gehört dem mathematischen, die zweite dem chemischen Wissen an. Um die Erscheinungen dem Calcul zu unterwerfen, wird die Materie aus Atomen (Moleculen) construirt, deren Zahl, Form, Lage und Polarität die Erscheinungen bedingen soll. Die Mythen von imponderablen Stoffen und von eigenen Lebenskräften in jeglichem Organismus verwickeln und trüben die Ansicht der Natur. Unter so verschiedenartigen Bedingnissen und Formen des Erkennens bewegt sich träge die schwere Last unseres angehäuften und jetzt so schnell anwachsenden empirischen Wissens. Die grübelnde Vernunft versucht muthvoll und mit wechselndem Glücke, die alten Formen zu zerbrechen, durch welche man den widerstrebenden Stoff wie durch mechanische Constructionen und Sinnbilder, zu beherrschen gewohnt ist. Wir sind noch weit von dem Zeitpunkte entfernt, wo es möglich sein könnte, alle unsere sinnlichen Anschauungen zur Einheit des Naturbegriffs zu concentriren. Es darf zweifelhaft genannt werden, ob dieser Zeitpunkt je heran-

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1845, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos01_1845/86>, abgerufen am 25.11.2024.