Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

Physische Geographie und Geschichte erscheinen lange anmuthig gemischt, bis das wachsende politische Interesse und ein vielbewegtes Staatsleben das erste Element verdrängten, das nun in eine abgesonderte Disciplin überging.

Die Vielheit der Erscheinungen des Kosmos in der Einheit des Gedankens, in der Form eines rein rationalen Zusammenhanges zu umfassen, kann, meiner Einsicht nach, bei dem jetzigen Zustande unseres empirischen Wissens nicht erlangt werden. Erfahrungswissenschaften sind nie vollendet, die Fülle sinnlicher Wahrnehmungen ist nicht zu erschöpfen; keine Generation wird je sich rühmen können, die Totalität der Erscheinungen zu übersehen. Nur da, wo man die Erscheinungen gruppenweise sondert, erkennt man in einzelnen gleichartigen Gruppen das Walten großer und einfacher Naturgesetze. Je mehr die physikalischen Wissenschaften sich ausbilden, desto mehr erweitern sich auch die Kreise dieses Waltens. Glänzende Beweise davon geben die neuerlangten Ansichten der Processe, welche sowohl im festen Erdkörper als in der Atmosphäre von electromagnetischen Kräften, von der strahlenden Wärme oder der Fortpflanzung der Lichtwellen abhangen; glänzende Beweise die Evolutions-Bildungen des Organismus, in denen alles Entstehende vorher angedeutet ist, wo gleichsam aus einerlei Hergang in der Vermehrung und Umwandlung von Zellen das Gewebe der Thier- und Pflanzenwelt entsteht. In der Verallgemeinerung der Gesetze, die anfangs nur engere Kreise, isolirtere Gruppen von Phänomenen zu beherrschen scheinen, giebt es mannigfaltige Abstufungen. Die Herrschaft der erkannten Gesetze gewinnt an Umfang, der ideelle Zusammenhang an Klarheit, so lange die Forschungen auf

Physische Geographie und Geschichte erscheinen lange anmuthig gemischt, bis das wachsende politische Interesse und ein vielbewegtes Staatsleben das erste Element verdrängten, das nun in eine abgesonderte Disciplin überging.

Die Vielheit der Erscheinungen des Kosmos in der Einheit des Gedankens, in der Form eines rein rationalen Zusammenhanges zu umfassen, kann, meiner Einsicht nach, bei dem jetzigen Zustande unseres empirischen Wissens nicht erlangt werden. Erfahrungswissenschaften sind nie vollendet, die Fülle sinnlicher Wahrnehmungen ist nicht zu erschöpfen; keine Generation wird je sich rühmen können, die Totalität der Erscheinungen zu übersehen. Nur da, wo man die Erscheinungen gruppenweise sondert, erkennt man in einzelnen gleichartigen Gruppen das Walten großer und einfacher Naturgesetze. Je mehr die physikalischen Wissenschaften sich ausbilden, desto mehr erweitern sich auch die Kreise dieses Waltens. Glänzende Beweise davon geben die neuerlangten Ansichten der Processe, welche sowohl im festen Erdkörper als in der Atmosphäre von electromagnetischen Kräften, von der strahlenden Wärme oder der Fortpflanzung der Lichtwellen abhangen; glänzende Beweise die Evolutions-Bildungen des Organismus, in denen alles Entstehende vorher angedeutet ist, wo gleichsam aus einerlei Hergang in der Vermehrung und Umwandlung von Zellen das Gewebe der Thier- und Pflanzenwelt entsteht. In der Verallgemeinerung der Gesetze, die anfangs nur engere Kreise, isolirtere Gruppen von Phänomenen zu beherrschen scheinen, giebt es mannigfaltige Abstufungen. Die Herrschaft der erkannten Gesetze gewinnt an Umfang, der ideelle Zusammenhang an Klarheit, so lange die Forschungen auf

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0084" n="65"/>
Physische Geographie und Geschichte erscheinen lange anmuthig gemischt, bis das wachsende politische Interesse und ein vielbewegtes Staatsleben das erste Element verdrängten, das nun in eine abgesonderte Disciplin überging.</p>
          <p>Die Vielheit der Erscheinungen des <hi rendition="#g">Kosmos</hi> in der Einheit des Gedankens, in der Form eines rein rationalen Zusammenhanges zu umfassen, kann, meiner Einsicht nach, bei dem jetzigen Zustande unseres empirischen Wissens nicht erlangt werden. Erfahrungswissenschaften sind nie vollendet, die Fülle sinnlicher Wahrnehmungen ist nicht zu erschöpfen; keine Generation wird je sich rühmen können, die Totalität der Erscheinungen zu übersehen. Nur da, wo man die Erscheinungen <hi rendition="#g">gruppenweise</hi> sondert, erkennt man in einzelnen gleichartigen Gruppen das Walten großer und einfacher Naturgesetze. Je mehr die physikalischen Wissenschaften sich ausbilden, desto mehr erweitern sich auch die Kreise dieses Waltens. Glänzende Beweise davon geben die neuerlangten Ansichten der Processe, welche sowohl im festen Erdkörper als in der Atmosphäre von electromagnetischen Kräften, von der strahlenden Wärme oder der Fortpflanzung der Lichtwellen abhangen; glänzende Beweise die Evolutions-Bildungen des Organismus, in denen alles Entstehende vorher <hi rendition="#g">angedeutet</hi> ist, wo gleichsam aus einerlei Hergang in der Vermehrung und Umwandlung von Zellen das Gewebe der Thier- und Pflanzenwelt entsteht. In der Verallgemeinerung der Gesetze, die anfangs nur engere Kreise, isolirtere Gruppen von Phänomenen zu beherrschen scheinen, giebt es mannigfaltige Abstufungen. Die Herrschaft der erkannten Gesetze gewinnt an Umfang, der ideelle Zusammenhang an Klarheit, so lange die Forschungen auf
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[65/0084] Physische Geographie und Geschichte erscheinen lange anmuthig gemischt, bis das wachsende politische Interesse und ein vielbewegtes Staatsleben das erste Element verdrängten, das nun in eine abgesonderte Disciplin überging. Die Vielheit der Erscheinungen des Kosmos in der Einheit des Gedankens, in der Form eines rein rationalen Zusammenhanges zu umfassen, kann, meiner Einsicht nach, bei dem jetzigen Zustande unseres empirischen Wissens nicht erlangt werden. Erfahrungswissenschaften sind nie vollendet, die Fülle sinnlicher Wahrnehmungen ist nicht zu erschöpfen; keine Generation wird je sich rühmen können, die Totalität der Erscheinungen zu übersehen. Nur da, wo man die Erscheinungen gruppenweise sondert, erkennt man in einzelnen gleichartigen Gruppen das Walten großer und einfacher Naturgesetze. Je mehr die physikalischen Wissenschaften sich ausbilden, desto mehr erweitern sich auch die Kreise dieses Waltens. Glänzende Beweise davon geben die neuerlangten Ansichten der Processe, welche sowohl im festen Erdkörper als in der Atmosphäre von electromagnetischen Kräften, von der strahlenden Wärme oder der Fortpflanzung der Lichtwellen abhangen; glänzende Beweise die Evolutions-Bildungen des Organismus, in denen alles Entstehende vorher angedeutet ist, wo gleichsam aus einerlei Hergang in der Vermehrung und Umwandlung von Zellen das Gewebe der Thier- und Pflanzenwelt entsteht. In der Verallgemeinerung der Gesetze, die anfangs nur engere Kreise, isolirtere Gruppen von Phänomenen zu beherrschen scheinen, giebt es mannigfaltige Abstufungen. Die Herrschaft der erkannten Gesetze gewinnt an Umfang, der ideelle Zusammenhang an Klarheit, so lange die Forschungen auf

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Posner Collection: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-01-09T11:04:31Z)
Moritz Bodner: Erstellung bzw. Korrektur der griechischen Textpassagen (2013-04-18T11:04:31Z)



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos01_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos01_1845/84
Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 1. Stuttgart u. a., 1845, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_kosmos01_1845/84>, abgerufen am 04.12.2024.