überlassen. Die Besorgniss, dadurch alle Familienverhältnisse zu stören, oder vielleicht gar ihre Entstehung überhaupt zu verhindern -- so gegründet dieselbe auch, bei diesen oder jenen Lokalumständen, sein möchte -- würde mich, in so fern ich allein auf die Natur der Menschen und Staaten im Allgemeinen achte, nicht abschrecken. Denn nicht selten zeigt die Erfah- rung, dass gerade, was das Gesetz löst, die Sitte bindet; die Idee des äussern Zwangs ist einem, allein auf Neigung und innrer Pflicht beruhenden Verhältniss, wie die Ehe, völlig fremdartig; und die Folgen zwingender Einrichtungen ent- sprechen der Absicht schlechterdings nicht.
[4. Die Sorgfalt des Staats für das positive Wohl der Bürger ist ferner darum schädlich, weil sie auf eine gemischte Menge gerichtet wer- den muss, und daher den Einzelnen durch Maassregeln schadet, welche auf einen Jeden von ihnen nur mit beträchtlichen Fehlern passen.
5. Sie hindert die Entwicklung der Individualität und Eigenthüm- lichkeit des Menschen] . . . . . . . . . . . . . . . in dem moralischen und überhaupt praktischen Leben des Menschen, sofern er nur auch hier gleichsam die Regeln beobachtet -- die sich aber vielleicht allein auf die Grund- sätze des Rechts beschränken -- überall den höchsten Gesichtspunkt der eigenthümlichsten Ausbildung seiner selbst und anderer vor Augen hat, überall von dieser rei- nen Absicht geleitet wird, und vorzüglich jedes andere Inter- esse diesem ohne alle Beimischung sinnlicher Beweggründe erkannten Gesetze unterwirft. Allein alle Seiten, welche der Mensch zu kultiviren vermag, stehen in einer wunderbar engen Verknüpfung, und wenn schon in der intellektuellen Welt der Zusammenhang wenn nicht inniger, doch wenig- stens deutlicher und bemerkbarer ist, als in der physischen; so ist er es noch bei weitem mehr in der moralischen. Daher müssen sich die Menschen unter einander verbinden, nicht um an Eigenthümlichkeit, aber an ausschliessendem Isolirtsein
überlassen. Die Besorgniss, dadurch alle Familienverhältnisse zu stören, oder vielleicht gar ihre Entstehung überhaupt zu verhindern — so gegründet dieselbe auch, bei diesen oder jenen Lokalumständen, sein möchte — würde mich, in so fern ich allein auf die Natur der Menschen und Staaten im Allgemeinen achte, nicht abschrecken. Denn nicht selten zeigt die Erfah- rung, dass gerade, was das Gesetz löst, die Sitte bindet; die Idee des äussern Zwangs ist einem, allein auf Neigung und innrer Pflicht beruhenden Verhältniss, wie die Ehe, völlig fremdartig; und die Folgen zwingender Einrichtungen ent- sprechen der Absicht schlechterdings nicht.
[4. Die Sorgfalt des Staats für das positive Wohl der Bürger ist ferner darum schädlich, weil sie auf eine gemischte Menge gerichtet wer- den muss, und daher den Einzelnen durch Maassregeln schadet, welche auf einen Jeden von ihnen nur mit beträchtlichen Fehlern passen.
5. Sie hindert die Entwicklung der Individualität und Eigenthüm- lichkeit des Menschen] . . . . . . . . . . . . . . . in dem moralischen und überhaupt praktischen Leben des Menschen, sofern er nur auch hier gleichsam die Regeln beobachtet — die sich aber vielleicht allein auf die Grund- sätze des Rechts beschränken — überall den höchsten Gesichtspunkt der eigenthümlichsten Ausbildung seiner selbst und anderer vor Augen hat, überall von dieser rei- nen Absicht geleitet wird, und vorzüglich jedes andere Inter- esse diesem ohne alle Beimischung sinnlicher Beweggründe erkannten Gesetze unterwirft. Allein alle Seiten, welche der Mensch zu kultiviren vermag, stehen in einer wunderbar engen Verknüpfung, und wenn schon in der intellektuellen Welt der Zusammenhang wenn nicht inniger, doch wenig- stens deutlicher und bemerkbarer ist, als in der physischen; so ist er es noch bei weitem mehr in der moralischen. Daher müssen sich die Menschen unter einander verbinden, nicht um an Eigenthümlichkeit, aber an ausschliessendem Isolirtsein
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0066"n="30"/>
überlassen. Die Besorgniss, dadurch alle Familienverhältnisse<lb/>
zu stören, oder vielleicht gar ihre Entstehung überhaupt zu<lb/>
verhindern — so gegründet dieselbe auch, bei diesen oder jenen<lb/>
Lokalumständen, sein möchte — würde mich, in so fern ich<lb/>
allein auf die Natur der Menschen und Staaten im Allgemeinen<lb/>
achte, nicht abschrecken. Denn nicht selten zeigt die Erfah-<lb/>
rung, dass gerade, was das Gesetz löst, die Sitte bindet; die<lb/>
Idee des äussern Zwangs ist einem, allein auf Neigung und<lb/>
innrer Pflicht beruhenden Verhältniss, wie die Ehe, völlig<lb/>
fremdartig; und die Folgen zwingender Einrichtungen ent-<lb/>
sprechen der Absicht schlechterdings nicht.</p><lb/><p>[4. Die Sorgfalt des Staats für das positive Wohl der Bürger ist<lb/>
ferner darum schädlich, weil sie auf eine gemischte Menge gerichtet wer-<lb/>
den muss, und daher den Einzelnen durch Maassregeln schadet, welche<lb/>
auf einen Jeden von ihnen nur mit beträchtlichen Fehlern passen.</p><lb/><p>5. Sie hindert die Entwicklung der Individualität und Eigenthüm-<lb/>
lichkeit des Menschen] . . . . . . . . . . . . . . .<lb/>
in dem moralischen und überhaupt praktischen Leben des<lb/>
Menschen, sofern er nur auch hier gleichsam die Regeln<lb/>
beobachtet — die sich aber vielleicht allein auf die Grund-<lb/>
sätze des Rechts beschränken — überall den höchsten<lb/>
Gesichtspunkt der eigenthümlichsten Ausbildung seiner<lb/>
selbst und anderer vor Augen hat, überall von dieser rei-<lb/>
nen Absicht geleitet wird, und vorzüglich jedes andere Inter-<lb/>
esse diesem ohne alle Beimischung sinnlicher Beweggründe<lb/>
erkannten Gesetze unterwirft. Allein alle Seiten, welche<lb/>
der Mensch zu kultiviren vermag, stehen in einer wunderbar<lb/>
engen Verknüpfung, und wenn schon in der intellektuellen<lb/>
Welt der Zusammenhang wenn nicht inniger, doch wenig-<lb/>
stens deutlicher und bemerkbarer ist, als in der physischen; so<lb/>
ist er es noch bei weitem mehr in der moralischen. Daher<lb/>
müssen sich die Menschen unter einander verbinden, nicht um<lb/>
an Eigenthümlichkeit, aber an ausschliessendem Isolirtsein<lb/></p></div></body></text></TEI>
[30/0066]
überlassen. Die Besorgniss, dadurch alle Familienverhältnisse
zu stören, oder vielleicht gar ihre Entstehung überhaupt zu
verhindern — so gegründet dieselbe auch, bei diesen oder jenen
Lokalumständen, sein möchte — würde mich, in so fern ich
allein auf die Natur der Menschen und Staaten im Allgemeinen
achte, nicht abschrecken. Denn nicht selten zeigt die Erfah-
rung, dass gerade, was das Gesetz löst, die Sitte bindet; die
Idee des äussern Zwangs ist einem, allein auf Neigung und
innrer Pflicht beruhenden Verhältniss, wie die Ehe, völlig
fremdartig; und die Folgen zwingender Einrichtungen ent-
sprechen der Absicht schlechterdings nicht.
[4. Die Sorgfalt des Staats für das positive Wohl der Bürger ist
ferner darum schädlich, weil sie auf eine gemischte Menge gerichtet wer-
den muss, und daher den Einzelnen durch Maassregeln schadet, welche
auf einen Jeden von ihnen nur mit beträchtlichen Fehlern passen.
5. Sie hindert die Entwicklung der Individualität und Eigenthüm-
lichkeit des Menschen] . . . . . . . . . . . . . . .
in dem moralischen und überhaupt praktischen Leben des
Menschen, sofern er nur auch hier gleichsam die Regeln
beobachtet — die sich aber vielleicht allein auf die Grund-
sätze des Rechts beschränken — überall den höchsten
Gesichtspunkt der eigenthümlichsten Ausbildung seiner
selbst und anderer vor Augen hat, überall von dieser rei-
nen Absicht geleitet wird, und vorzüglich jedes andere Inter-
esse diesem ohne alle Beimischung sinnlicher Beweggründe
erkannten Gesetze unterwirft. Allein alle Seiten, welche
der Mensch zu kultiviren vermag, stehen in einer wunderbar
engen Verknüpfung, und wenn schon in der intellektuellen
Welt der Zusammenhang wenn nicht inniger, doch wenig-
stens deutlicher und bemerkbarer ist, als in der physischen; so
ist er es noch bei weitem mehr in der moralischen. Daher
müssen sich die Menschen unter einander verbinden, nicht um
an Eigenthümlichkeit, aber an ausschliessendem Isolirtsein
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/66>, abgerufen am 27.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.