grössere ursprüngliche Kraft und Eigenthümlichkeit einander begegnete, und neue wunderbare Gestalten schuf. Jedes folgende Zeitalter -- und in wieviel schnelleren Graden muss dieses Ver- hältniss von jetzt an steigen? -- muss den vorigen an Mannig- faltigkeit nachstehen, an Mannigfaltigkeit der Natur -- die ungeheuren Wälder sind ausgehauen, die Moräste getrocknet u. s. f. -- an Mannigfaltigkeit der Menschen, durch die immer grössere Mittheilung und Vereinigung der menschlichen Werke, durch die beiden vorigen Gründe 1). Dies ist eine der vorzüg- lichsten Ursachen, welche die Idee des Neuen, Ungewöhnlichen, Wunderbaren so viel seltner, das Staunen, Erschrecken bei- nahe zur Schande, und die Erfindung neuer, noch unbekannter Hülfsmittel, selbst nur plötzliche, unvorbereitete und dringende Entschlüsse bei weitem seltner nothwendig macht. Denn theils ist das Andringen der äusseren Umstände gegen den Menschen, welcher mit mehr Werkzeugen, ihnen zu begegnen, versehen ist, minder gross; theils ist es nicht mehr gleich möglich, ihnen allein durch diejenigen Kräfte Widerstand zu leisten, welche die Natur jedem giebt, und die er nur zu benutzen braucht; theils endlich macht das ausgearbeitetere Wissen das Erfinden weniger nothwendig, und das Lernen stumpft selbst die Kraft dazu ab. Dagegen ist es unläugbar, dass, wenn die physische Mannigfaltigkeit geringer wurde, eine bei weitem reichere und befriedigendere intellectuelle und moralische an ihre Stelle trat, und dass Gradationen und Verschiedenheiten von unserm mehr verfeinten Geiste wahrgenommen, und unserm, wenn gleich nicht eben so stark gebildeten, doch reizbaren kultivirten Charakter ins praktische Leben übergetragen wer- den, die auch vielleicht den Weisen des Alterthums, oder doch wenigstens nur ihnen nicht unbemerkt geblieben wären. Es ist im ganzen Menschengeschlecht, wie im einzelnen Menschen
1) Eben dies bemerkt einmal Rousseau im Emil.
grössere ursprüngliche Kraft und Eigenthümlichkeit einander begegnete, und neue wunderbare Gestalten schuf. Jedes folgende Zeitalter — und in wieviel schnelleren Graden muss dieses Ver- hältniss von jetzt an steigen? — muss den vorigen an Mannig- faltigkeit nachstehen, an Mannigfaltigkeit der Natur — die ungeheuren Wälder sind ausgehauen, die Moräste getrocknet u. s. f. — an Mannigfaltigkeit der Menschen, durch die immer grössere Mittheilung und Vereinigung der menschlichen Werke, durch die beiden vorigen Gründe 1). Dies ist eine der vorzüg- lichsten Ursachen, welche die Idee des Neuen, Ungewöhnlichen, Wunderbaren so viel seltner, das Staunen, Erschrecken bei- nahe zur Schande, und die Erfindung neuer, noch unbekannter Hülfsmittel, selbst nur plötzliche, unvorbereitete und dringende Entschlüsse bei weitem seltner nothwendig macht. Denn theils ist das Andringen der äusseren Umstände gegen den Menschen, welcher mit mehr Werkzeugen, ihnen zu begegnen, versehen ist, minder gross; theils ist es nicht mehr gleich möglich, ihnen allein durch diejenigen Kräfte Widerstand zu leisten, welche die Natur jedem giebt, und die er nur zu benutzen braucht; theils endlich macht das ausgearbeitetere Wissen das Erfinden weniger nothwendig, und das Lernen stumpft selbst die Kraft dazu ab. Dagegen ist es unläugbar, dass, wenn die physische Mannigfaltigkeit geringer wurde, eine bei weitem reichere und befriedigendere intellectuelle und moralische an ihre Stelle trat, und dass Gradationen und Verschiedenheiten von unserm mehr verfeinten Geiste wahrgenommen, und unserm, wenn gleich nicht eben so stark gebildeten, doch reizbaren kultivirten Charakter ins praktische Leben übergetragen wer- den, die auch vielleicht den Weisen des Alterthums, oder doch wenigstens nur ihnen nicht unbemerkt geblieben wären. Es ist im ganzen Menschengeschlecht, wie im einzelnen Menschen
1) Eben dies bemerkt einmal Rousseau im Emil.
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grössere ursprüngliche Kraft und Eigenthümlichkeit einander
begegnete, und neue wunderbare Gestalten schuf. Jedes folgende
Zeitalter — und in wieviel schnelleren Graden muss dieses Ver-
hältniss von jetzt an steigen? — muss den vorigen an Mannig-
faltigkeit nachstehen, an Mannigfaltigkeit der Natur — die
ungeheuren Wälder sind ausgehauen, die Moräste getrocknet
u. s. f. — an Mannigfaltigkeit der Menschen, durch die immer
grössere Mittheilung und Vereinigung der menschlichen Werke,
durch die beiden vorigen Gründe 1). Dies ist eine der vorzüg-
lichsten Ursachen, welche die Idee des Neuen, Ungewöhnlichen,
Wunderbaren so viel seltner, das Staunen, Erschrecken bei-
nahe zur Schande, und die Erfindung neuer, noch unbekannter
Hülfsmittel, selbst nur plötzliche, unvorbereitete und dringende
Entschlüsse bei weitem seltner nothwendig macht. Denn theils
ist das Andringen der äusseren Umstände gegen den Menschen,
welcher mit mehr Werkzeugen, ihnen zu begegnen, versehen
ist, minder gross; theils ist es nicht mehr gleich möglich, ihnen
allein durch diejenigen Kräfte Widerstand zu leisten, welche
die Natur jedem giebt, und die er nur zu benutzen braucht;
theils endlich macht das ausgearbeitetere Wissen das Erfinden
weniger nothwendig, und das Lernen stumpft selbst die Kraft
dazu ab. Dagegen ist es unläugbar, dass, wenn die physische
Mannigfaltigkeit geringer wurde, eine bei weitem reichere und
befriedigendere intellectuelle und moralische an ihre Stelle
trat, und dass Gradationen und Verschiedenheiten von
unserm mehr verfeinten Geiste wahrgenommen, und unserm,
wenn gleich nicht eben so stark gebildeten, doch reizbaren
kultivirten Charakter ins praktische Leben übergetragen wer-
den, die auch vielleicht den Weisen des Alterthums, oder doch
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ist im ganzen Menschengeschlecht, wie im einzelnen Menschen
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/50>, abgerufen am 16.02.2025.
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