XII. Sorgfalt des Staats für die Sicherheit durch rechtliche Entscheidung der Streitigkeiten der Bürger.
Der Staat tritt hier blos an die Stelle der Partheien. -- Erster, hieraus entsprin- gender Grundsatz der Prozessordnung. -- Der Staat muss die Rechte beider Partheien gegen einander beschützen. -- Daraus entspringender zweiter Grund- satz der Prozessordnung. -- Nachtheile der Vernachlässigung dieser Grundsätze. -- Nothwendigkeit neuer Gesetze zum Behuf der Möglichkeit der richterlichen Entscheidung. -- Güte der Gerichtsverfassung, das Moment, von welchem diese Nothwendigkeit vorzüglich abhängt. -- Vortheile und Nachtheile solcher Gesetze. -- Aus denselben entspringende Regeln der Gesetzgebung. -- Höchste aus die- sem Abschnitt gezogene Grundsätze.
Dasjenige, worauf die Sicherheit der Bürger in der Gesell- schaft vorzüglich beruht, ist die Uebertragung aller eigenmäch- tigen Verfolgung des Rechts an den Staat. Aus dieser Ueber- tragung entspringt aber auch für diesen die Pflicht, den Bürgern nunmehr zu leisten, was sie selbst sich nicht mehr verschaffen dürfen, und folglich das Recht, wenn es unter ihnen streitig ist, zu entscheiden, und den, auf dessen Seite es sich findet, in dem Besitze desselben zu schützen. Hiebei tritt der Staat allein, und ohne alles eigne Interesse in die Stelle der Bürger. Denn die Sicherheit wird hier nur dann wirklich ver- letzt, wenn derjenige, welcher Unrecht leidet, oder zu leiden vermeint, dies nicht geduldig ertragen will, nicht aber dann, wenn er entweder einwilligt, oder doch Gründe hat, sein Recht nicht verfolgen zu wollen. Ja selbst wenn Unwissenheit oder Trägheit Vernachlässigung des eignen Rechtes veranlasste, dürfte der Staat sich nicht von selbst darin mischen. Er hat seinen Pflichten Genüge geleistet, sobald er nur nicht durch verwickelte, dunkle, oder nicht gehörig bekannt gemachte Ge- setze zu dergleichen Irrthümern Gelegenheit giebt. Eben diese Gründe gelten nun auch von allen Mitteln, deren der Staat sich zur Ausmittelung des Rechts da bedient, wo es wirklich verfolgt wird. Er darf darin nämlich niemals auch nur einen Schritt weiter
XII. Sorgfalt des Staats für die Sicherheit durch rechtliche Entscheidung der Streitigkeiten der Bürger.
Der Staat tritt hier blos an die Stelle der Partheien. — Erster, hieraus entsprin- gender Grundsatz der Prozessordnung. — Der Staat muss die Rechte beider Partheien gegen einander beschützen. — Daraus entspringender zweiter Grund- satz der Prozessordnung. — Nachtheile der Vernachlässigung dieser Grundsätze. — Nothwendigkeit neuer Gesetze zum Behuf der Möglichkeit der richterlichen Entscheidung. — Güte der Gerichtsverfassung, das Moment, von welchem diese Nothwendigkeit vorzüglich abhängt. — Vortheile und Nachtheile solcher Gesetze. — Aus denselben entspringende Regeln der Gesetzgebung. — Höchste aus die- sem Abschnitt gezogene Grundsätze.
Dasjenige, worauf die Sicherheit der Bürger in der Gesell- schaft vorzüglich beruht, ist die Uebertragung aller eigenmäch- tigen Verfolgung des Rechts an den Staat. Aus dieser Ueber- tragung entspringt aber auch für diesen die Pflicht, den Bürgern nunmehr zu leisten, was sie selbst sich nicht mehr verschaffen dürfen, und folglich das Recht, wenn es unter ihnen streitig ist, zu entscheiden, und den, auf dessen Seite es sich findet, in dem Besitze desselben zu schützen. Hiebei tritt der Staat allein, und ohne alles eigne Interesse in die Stelle der Bürger. Denn die Sicherheit wird hier nur dann wirklich ver- letzt, wenn derjenige, welcher Unrecht leidet, oder zu leiden vermeint, dies nicht geduldig ertragen will, nicht aber dann, wenn er entweder einwilligt, oder doch Gründe hat, sein Recht nicht verfolgen zu wollen. Ja selbst wenn Unwissenheit oder Trägheit Vernachlässigung des eignen Rechtes veranlasste, dürfte der Staat sich nicht von selbst darin mischen. Er hat seinen Pflichten Genüge geleistet, sobald er nur nicht durch verwickelte, dunkle, oder nicht gehörig bekannt gemachte Ge- setze zu dergleichen Irrthümern Gelegenheit giebt. Eben diese Gründe gelten nun auch von allen Mitteln, deren der Staat sich zur Ausmittelung des Rechts da bedient, wo es wirklich verfolgt wird. Er darf darin nämlich niemals auch nur einen Schritt weiter
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XII.
Sorgfalt des Staats für die Sicherheit durch rechtliche Entscheidung
der Streitigkeiten der Bürger.
Der Staat tritt hier blos an die Stelle der Partheien. — Erster, hieraus entsprin-
gender Grundsatz der Prozessordnung. — Der Staat muss die Rechte beider
Partheien gegen einander beschützen. — Daraus entspringender zweiter Grund-
satz der Prozessordnung. — Nachtheile der Vernachlässigung dieser Grundsätze.
— Nothwendigkeit neuer Gesetze zum Behuf der Möglichkeit der richterlichen
Entscheidung. — Güte der Gerichtsverfassung, das Moment, von welchem diese
Nothwendigkeit vorzüglich abhängt. — Vortheile und Nachtheile solcher Gesetze.
— Aus denselben entspringende Regeln der Gesetzgebung. — Höchste aus die-
sem Abschnitt gezogene Grundsätze.
Dasjenige, worauf die Sicherheit der Bürger in der Gesell-
schaft vorzüglich beruht, ist die Uebertragung aller eigenmäch-
tigen Verfolgung des Rechts an den Staat. Aus dieser Ueber-
tragung entspringt aber auch für diesen die Pflicht, den
Bürgern nunmehr zu leisten, was sie selbst sich nicht mehr
verschaffen dürfen, und folglich das Recht, wenn es unter ihnen
streitig ist, zu entscheiden, und den, auf dessen Seite es sich
findet, in dem Besitze desselben zu schützen. Hiebei tritt der
Staat allein, und ohne alles eigne Interesse in die Stelle der
Bürger. Denn die Sicherheit wird hier nur dann wirklich ver-
letzt, wenn derjenige, welcher Unrecht leidet, oder zu leiden
vermeint, dies nicht geduldig ertragen will, nicht aber dann,
wenn er entweder einwilligt, oder doch Gründe hat, sein Recht
nicht verfolgen zu wollen. Ja selbst wenn Unwissenheit oder
Trägheit Vernachlässigung des eignen Rechtes veranlasste,
dürfte der Staat sich nicht von selbst darin mischen. Er hat
seinen Pflichten Genüge geleistet, sobald er nur nicht durch
verwickelte, dunkle, oder nicht gehörig bekannt gemachte Ge-
setze zu dergleichen Irrthümern Gelegenheit giebt. Eben diese
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/169>, abgerufen am 23.02.2025.
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