eigentlicher Vollkommenheit gewinnt er folglich nichts. Wer also Menschen bilden, nicht zu äussern Zwecken ziehen will, wird sich dieser Mittel nie bedienen. Denn abgerechnet, dass Zwang und Leitung nie Tugend hervorbringen; so schwächen sie auch noch immer die Kraft. Was sind aber Sitten, ohne moralische Stärke und Tugend? Und wie gross auch das Uebel des Sittenverderbnisses sein mag, es ermangelt selbst der heil- samen Folgen nicht. Durch die Extreme müssen die Menschen zu der Weisheit und Tugend mittlerem Pfad gelangen. Extreme müssen, gleich grossen, in die Ferne leuchtenden Massen, weit wirken. Um den feinsten Adern des Körpers Blut zu ver- schaffen, muss eine beträchtliche Menge in den grossen vor- handen sein. Hier die Ordnung der Natur stören wollen, heisst moralisches Uebel anrichten, um physisches zu verhüten.
Es ist aber auch, meines Erachtens, unrichtig, dass die Gefahr des Sittenverderbnisses so gross und dringend sei; und so manches auch schon zu Bestätigung dieser Behauptung im Vorigen gesagt worden ist, so mögen doch noch folgende Bemerkungen dazu dienen, sie ausführlicher zu beweisen:
1. Der Mensch ist an sich mehr zu wohlthätigen, als eigen- nützigen Handlungen geneigt. Dies zeigt sogar die Geschichte der Wilden. Die häuslichen Tugenden haben so etwas Freund- liches, die öffentlichen des Bürgers so etwas Grosses und Hin- reissendes, dass auch der blos unverdorbene Mensch ihrem Reiz selten widersteht.
2. Die Freiheit erhöht die Kraft, und führt, wie immer die grössere Stärke, allemal eine Art der Liberalität mit sich. Zwang erstickt die Kraft, und führt zu allen eigennützigen Wünschen, und allen niedrigen Kunstgriffen der Schwäche. Zwang hindert vielleicht manche Vergehung, raubt aber selbst den gesetzmässigen Handlungen von ihrer Schönheit. Frei- heit veranlasst vielleicht manche Vergehung, giebt aber selbst dem Laster eine minder unedle Gestalt.
eigentlicher Vollkommenheit gewinnt er folglich nichts. Wer also Menschen bilden, nicht zu äussern Zwecken ziehen will, wird sich dieser Mittel nie bedienen. Denn abgerechnet, dass Zwang und Leitung nie Tugend hervorbringen; so schwächen sie auch noch immer die Kraft. Was sind aber Sitten, ohne moralische Stärke und Tugend? Und wie gross auch das Uebel des Sittenverderbnisses sein mag, es ermangelt selbst der heil- samen Folgen nicht. Durch die Extreme müssen die Menschen zu der Weisheit und Tugend mittlerem Pfad gelangen. Extreme müssen, gleich grossen, in die Ferne leuchtenden Massen, weit wirken. Um den feinsten Adern des Körpers Blut zu ver- schaffen, muss eine beträchtliche Menge in den grossen vor- handen sein. Hier die Ordnung der Natur stören wollen, heisst moralisches Uebel anrichten, um physisches zu verhüten.
Es ist aber auch, meines Erachtens, unrichtig, dass die Gefahr des Sittenverderbnisses so gross und dringend sei; und so manches auch schon zu Bestätigung dieser Behauptung im Vorigen gesagt worden ist, so mögen doch noch folgende Bemerkungen dazu dienen, sie ausführlicher zu beweisen:
1. Der Mensch ist an sich mehr zu wohlthätigen, als eigen- nützigen Handlungen geneigt. Dies zeigt sogar die Geschichte der Wilden. Die häuslichen Tugenden haben so etwas Freund- liches, die öffentlichen des Bürgers so etwas Grosses und Hin- reissendes, dass auch der blos unverdorbene Mensch ihrem Reiz selten widersteht.
2. Die Freiheit erhöht die Kraft, und führt, wie immer die grössere Stärke, allemal eine Art der Liberalität mit sich. Zwang erstickt die Kraft, und führt zu allen eigennützigen Wünschen, und allen niedrigen Kunstgriffen der Schwäche. Zwang hindert vielleicht manche Vergehung, raubt aber selbst den gesetzmässigen Handlungen von ihrer Schönheit. Frei- heit veranlasst vielleicht manche Vergehung, giebt aber selbst dem Laster eine minder unedle Gestalt.
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eigentlicher Vollkommenheit gewinnt er folglich nichts. Wer
also Menschen bilden, nicht zu äussern Zwecken ziehen will,
wird sich dieser Mittel nie bedienen. Denn abgerechnet, dass
Zwang und Leitung nie Tugend hervorbringen; so schwächen
sie auch noch immer die Kraft. Was sind aber Sitten, ohne
moralische Stärke und Tugend? Und wie gross auch das Uebel
des Sittenverderbnisses sein mag, es ermangelt selbst der heil-
samen Folgen nicht. Durch die Extreme müssen die Menschen
zu der Weisheit und Tugend mittlerem Pfad gelangen. Extreme
müssen, gleich grossen, in die Ferne leuchtenden Massen, weit
wirken. Um den feinsten Adern des Körpers Blut zu ver-
schaffen, muss eine beträchtliche Menge in den grossen vor-
handen sein. Hier die Ordnung der Natur stören wollen, heisst
moralisches Uebel anrichten, um physisches zu verhüten.
Es ist aber auch, meines Erachtens, unrichtig, dass die
Gefahr des Sittenverderbnisses so gross und dringend sei; und
so manches auch schon zu Bestätigung dieser Behauptung im
Vorigen gesagt worden ist, so mögen doch noch folgende
Bemerkungen dazu dienen, sie ausführlicher zu beweisen:
1. Der Mensch ist an sich mehr zu wohlthätigen, als eigen-
nützigen Handlungen geneigt. Dies zeigt sogar die Geschichte
der Wilden. Die häuslichen Tugenden haben so etwas Freund-
liches, die öffentlichen des Bürgers so etwas Grosses und Hin-
reissendes, dass auch der blos unverdorbene Mensch ihrem
Reiz selten widersteht.
2. Die Freiheit erhöht die Kraft, und führt, wie immer die
grössere Stärke, allemal eine Art der Liberalität mit sich.
Zwang erstickt die Kraft, und führt zu allen eigennützigen
Wünschen, und allen niedrigen Kunstgriffen der Schwäche.
Zwang hindert vielleicht manche Vergehung, raubt aber selbst
den gesetzmässigen Handlungen von ihrer Schönheit. Frei-
heit veranlasst vielleicht manche Vergehung, giebt aber selbst
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/134>, abgerufen am 27.07.2024.
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