Uebeln. Nach den im Vorigen ausgeführten Grundsätzen aber ist es dem Staat nicht erlaubt, mit positiven Endzwecken auf die Lage der Bürger zu wirken. Diese Lage erhält daher nicht eine so bestimmte und erzwungene Form, und ihre grössere Freiheit, wie dass sie in eben dieser Freiheit selbst gröss- tentheils von der Denkungs- und Handlungsart der Bür- ger ihre Richtung erhält, vermindert schon jenes Missverhält- niss. Dennoch könnte indess die, immer übrig bleibende, wahr- lich nicht unbedeutende Gefahr die Vorstellung der Nothwen- digkeit erregen, der Sittenverderbniss durch Gesetze und Staatseinrichtungen entgegenzukommen.
Allein, wären dergleichen Gesetze und Einrichtungen auch wirksam, so würde nur mit dem Grade ihrer Wirksamkeit auch ihre Schädlichkeit steigen. Ein Staat, in welchem die Bürger durch solche Mittel genöthigt oder bewogen würden, auch den besten Gesetzen zu folgen, könnte ein ruhiger, friedliebender, wohlhabender Staat sein; allein er würde mir immer ein Haufe ernährter Sklaven, nicht eine Vereinigung freier, nur, wo sie die Gränze des Rechts übertreten, gebundener Menschen schei- nen. Blos gewisse Handlungen, Gesinnungen hervorzubringen, giebt es freilich sehr viele Wege. Keiner von allen aber führt zur wahren, moralischen Vollkommenheit. Sinnliche Antriebe zur Begehung gewisser Handlungen, oder Nothwendigkeit sie zu unterlassen, bringen Gewohnheit hervor; durch die Gewohn- heit wird das Vergnügen, das anfangs nur mit jenen Antrieben verbunden war, auf die Handlung selbst übergetragen, oder die Neigung, welche anfangs nur vor der Nothwendigkeit schwieg, gänzlich erstickt; so wird der Mensch zu tugendhaften Hand- lungen, gewissermassen auch zu tugendhaften Gesinnungen geleitet. Allein die Kraft seiner Seele wird dadurch nicht erhöht; weder seine Ideen über seine Bestimmung und seinen Werth erhalten dadurch mehr Aufklärung, noch sein Wille mehr Kraft, die herrschende Neigung zu besiegen; an wahrer,
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Uebeln. Nach den im Vorigen ausgeführten Grundsätzen aber ist es dem Staat nicht erlaubt, mit positiven Endzwecken auf die Lage der Bürger zu wirken. Diese Lage erhält daher nicht eine so bestimmte und erzwungene Form, und ihre grössere Freiheit, wie dass sie in eben dieser Freiheit selbst gröss- tentheils von der Denkungs- und Handlungsart der Bür- ger ihre Richtung erhält, vermindert schon jenes Missverhält- niss. Dennoch könnte indess die, immer übrig bleibende, wahr- lich nicht unbedeutende Gefahr die Vorstellung der Nothwen- digkeit erregen, der Sittenverderbniss durch Gesetze und Staatseinrichtungen entgegenzukommen.
Allein, wären dergleichen Gesetze und Einrichtungen auch wirksam, so würde nur mit dem Grade ihrer Wirksamkeit auch ihre Schädlichkeit steigen. Ein Staat, in welchem die Bürger durch solche Mittel genöthigt oder bewogen würden, auch den besten Gesetzen zu folgen, könnte ein ruhiger, friedliebender, wohlhabender Staat sein; allein er würde mir immer ein Haufe ernährter Sklaven, nicht eine Vereinigung freier, nur, wo sie die Gränze des Rechts übertreten, gebundener Menschen schei- nen. Blos gewisse Handlungen, Gesinnungen hervorzubringen, giebt es freilich sehr viele Wege. Keiner von allen aber führt zur wahren, moralischen Vollkommenheit. Sinnliche Antriebe zur Begehung gewisser Handlungen, oder Nothwendigkeit sie zu unterlassen, bringen Gewohnheit hervor; durch die Gewohn- heit wird das Vergnügen, das anfangs nur mit jenen Antrieben verbunden war, auf die Handlung selbst übergetragen, oder die Neigung, welche anfangs nur vor der Nothwendigkeit schwieg, gänzlich erstickt; so wird der Mensch zu tugendhaften Hand- lungen, gewissermassen auch zu tugendhaften Gesinnungen geleitet. Allein die Kraft seiner Seele wird dadurch nicht erhöht; weder seine Ideen über seine Bestimmung und seinen Werth erhalten dadurch mehr Aufklärung, noch sein Wille mehr Kraft, die herrschende Neigung zu besiegen; an wahrer,
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Uebeln. Nach den im Vorigen ausgeführten Grundsätzen aber
ist es dem Staat nicht erlaubt, mit positiven Endzwecken auf
die Lage der Bürger zu wirken. Diese Lage erhält daher nicht
eine so bestimmte und erzwungene Form, und ihre grössere
Freiheit, wie dass sie in eben dieser Freiheit selbst gröss-
tentheils von der Denkungs- und Handlungsart der Bür-
ger ihre Richtung erhält, vermindert schon jenes Missverhält-
niss. Dennoch könnte indess die, immer übrig bleibende, wahr-
lich nicht unbedeutende Gefahr die Vorstellung der Nothwen-
digkeit erregen, der Sittenverderbniss durch Gesetze und
Staatseinrichtungen entgegenzukommen.
Allein, wären dergleichen Gesetze und Einrichtungen auch
wirksam, so würde nur mit dem Grade ihrer Wirksamkeit auch
ihre Schädlichkeit steigen. Ein Staat, in welchem die Bürger
durch solche Mittel genöthigt oder bewogen würden, auch den
besten Gesetzen zu folgen, könnte ein ruhiger, friedliebender,
wohlhabender Staat sein; allein er würde mir immer ein Haufe
ernährter Sklaven, nicht eine Vereinigung freier, nur, wo sie
die Gränze des Rechts übertreten, gebundener Menschen schei-
nen. Blos gewisse Handlungen, Gesinnungen hervorzubringen,
giebt es freilich sehr viele Wege. Keiner von allen aber führt
zur wahren, moralischen Vollkommenheit. Sinnliche Antriebe
zur Begehung gewisser Handlungen, oder Nothwendigkeit sie
zu unterlassen, bringen Gewohnheit hervor; durch die Gewohn-
heit wird das Vergnügen, das anfangs nur mit jenen Antrieben
verbunden war, auf die Handlung selbst übergetragen, oder die
Neigung, welche anfangs nur vor der Nothwendigkeit schwieg,
gänzlich erstickt; so wird der Mensch zu tugendhaften Hand-
lungen, gewissermassen auch zu tugendhaften Gesinnungen
geleitet. Allein die Kraft seiner Seele wird dadurch nicht
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 97. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/133>, abgerufen am 16.02.2025.
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