nur durch Verbreitung bestimmter Sätze, durch Einschränkung der Denkfreiheit wirken könne. Es liegt schon an sich etwas die Menschheit Herabwürdigendes in dem Gedanken, irgend einem Menschen das Recht abzusprechen, ein Mensch zu sein. Keiner steht auf einer so niedrigen Stufe der Kultur, dass er zu Erreichung einer höheren unfähig wäre; und sollten auch die aufgeklärteren religiösen und philosophischen Ideen auf einen grossen Theil der Bürger nicht unmittelbar übergehen können, sollte man dieser Klasse von Menschen, um sich an ihre Ideen anzuschmiegen, die Wahrheit in einem andern Kleide vortragen müssen, als man sonst wählen würde, sollte man genöthigt sein, mehr zu ihrer Einbildungskraft und zu ihrem Herzen, als zu ihrer kalten Vernunft zu reden; so verbreitet sich doch die Er- weiterung, welche alle wissenschaftliche Erkenntniss durch Frei- heit und Aufklärung erhält, auch bis auf sie herunter, so dehnen sich doch die wohlthätigen Folgen der freien, uneingeschränkten Untersuchung auf den Geist und den Charakter der ganzen Nation bis in ihre geringsten Individua hin aus.
Um diesem Raisonnement, weil es sich grossentheils nur auf den Fall bezieht, wenn der Staat gewisse Religionssätze zu verbreiten bemüht ist, eine grössere Allgemeinheit zu geben, muss ich noch an den, im Vorigen entwickelten Satz erinnern, dass aller Einfluss der Religion auf die Sittlichkeit weit mehr -- wenn nicht allein -- von der Form abhängt, in welcher gleichsam die Religion im Menschen existirt, als von dem In- halte der Sätze, welche sie ihm heilig macht. Nun aber wirkt jede Veranstaltung des Staats, wie ich gleichfalls im Vorigen zu zeigen versucht habe, nur mehr oder minder, auf diesen In- halt, indess der Zugang zu jener Form -- wenn ich mich dieses Ausdrucks ferner bedienen darf -- ihm so gut als gänzlich ver- schlossen ist. Wie Religion in einem Menschen von selbst entstehe? wie er sie aufnehme? dies hängt gänzlich von seiner ganzen Art zu sein, zu denken und zu empfinden ab. Auch nun ange-
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nur durch Verbreitung bestimmter Sätze, durch Einschränkung der Denkfreiheit wirken könne. Es liegt schon an sich etwas die Menschheit Herabwürdigendes in dem Gedanken, irgend einem Menschen das Recht abzusprechen, ein Mensch zu sein. Keiner steht auf einer so niedrigen Stufe der Kultur, dass er zu Erreichung einer höheren unfähig wäre; und sollten auch die aufgeklärteren religiösen und philosophischen Ideen auf einen grossen Theil der Bürger nicht unmittelbar übergehen können, sollte man dieser Klasse von Menschen, um sich an ihre Ideen anzuschmiegen, die Wahrheit in einem andern Kleide vortragen müssen, als man sonst wählen würde, sollte man genöthigt sein, mehr zu ihrer Einbildungskraft und zu ihrem Herzen, als zu ihrer kalten Vernunft zu reden; so verbreitet sich doch die Er- weiterung, welche alle wissenschaftliche Erkenntniss durch Frei- heit und Aufklärung erhält, auch bis auf sie herunter, so dehnen sich doch die wohlthätigen Folgen der freien, uneingeschränkten Untersuchung auf den Geist und den Charakter der ganzen Nation bis in ihre geringsten Individua hin aus.
Um diesem Raisonnement, weil es sich grossentheils nur auf den Fall bezieht, wenn der Staat gewisse Religionssätze zu verbreiten bemüht ist, eine grössere Allgemeinheit zu geben, muss ich noch an den, im Vorigen entwickelten Satz erinnern, dass aller Einfluss der Religion auf die Sittlichkeit weit mehr — wenn nicht allein — von der Form abhängt, in welcher gleichsam die Religion im Menschen existirt, als von dem In- halte der Sätze, welche sie ihm heilig macht. Nun aber wirkt jede Veranstaltung des Staats, wie ich gleichfalls im Vorigen zu zeigen versucht habe, nur mehr oder minder, auf diesen In- halt, indess der Zugang zu jener Form — wenn ich mich dieses Ausdrucks ferner bedienen darf — ihm so gut als gänzlich ver- schlossen ist. Wie Religion in einem Menschen von selbst entstehe? wie er sie aufnehme? dies hängt gänzlich von seiner ganzen Art zu sein, zu denken und zu empfinden ab. Auch nun ange-
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nur durch Verbreitung bestimmter Sätze, durch Einschränkung
der Denkfreiheit wirken könne. Es liegt schon an sich etwas
die Menschheit Herabwürdigendes in dem Gedanken, irgend
einem Menschen das Recht abzusprechen, ein Mensch zu sein.
Keiner steht auf einer so niedrigen Stufe der Kultur, dass er zu
Erreichung einer höheren unfähig wäre; und sollten auch die
aufgeklärteren religiösen und philosophischen Ideen auf einen
grossen Theil der Bürger nicht unmittelbar übergehen können,
sollte man dieser Klasse von Menschen, um sich an ihre Ideen
anzuschmiegen, die Wahrheit in einem andern Kleide vortragen
müssen, als man sonst wählen würde, sollte man genöthigt sein,
mehr zu ihrer Einbildungskraft und zu ihrem Herzen, als zu
ihrer kalten Vernunft zu reden; so verbreitet sich doch die Er-
weiterung, welche alle wissenschaftliche Erkenntniss durch Frei-
heit und Aufklärung erhält, auch bis auf sie herunter, so dehnen
sich doch die wohlthätigen Folgen der freien, uneingeschränkten
Untersuchung auf den Geist und den Charakter der ganzen
Nation bis in ihre geringsten Individua hin aus.
Um diesem Raisonnement, weil es sich grossentheils nur
auf den Fall bezieht, wenn der Staat gewisse Religionssätze zu
verbreiten bemüht ist, eine grössere Allgemeinheit zu geben,
muss ich noch an den, im Vorigen entwickelten Satz erinnern,
dass aller Einfluss der Religion auf die Sittlichkeit weit mehr
— wenn nicht allein — von der Form abhängt, in welcher
gleichsam die Religion im Menschen existirt, als von dem In-
halte der Sätze, welche sie ihm heilig macht. Nun aber wirkt
jede Veranstaltung des Staats, wie ich gleichfalls im Vorigen
zu zeigen versucht habe, nur mehr oder minder, auf diesen In-
halt, indess der Zugang zu jener Form — wenn ich mich dieses
Ausdrucks ferner bedienen darf — ihm so gut als gänzlich ver-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/117>, abgerufen am 16.02.2025.
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