stehen zu bleiben? Wenn nun alle Religiösität so gänzlich auf den mannigfaltigen Modifikationen des Charakters und vor- züglich des Gefühls beruht; so muss auch ihr Einfluss auf die Sittlichkeit ganz und gar nicht von der Materie gleichsam des Inhalts der angenommenen Sätze, sondern von der Form des Annehmens, der Ueberzeugung, des Glaubens abhängig sein. Diese Bemerkung, die mir gleich in der Folge von grossem Nutzen sein wird, hoffe ich durch das Bisherige hinlänglich gerechtfertigt zu haben. Was ich vielleicht allein hier noch fürchten darf, ist der Vorwurf, in allem, was ich sagte, nur den sehr von der Natur und den Umständen begünstigten, interes- santen, und eben darum seltenen Menschen vor Augen gehabt zu haben. Allein die Folge wird, hoffe ich, zeigen, dass ich den freilich grösseren Haufen keineswegs übersehe, und es scheint mir unedel, überall da, wo es der Mensch ist, welcher die Untersuchung beschäftigt, nicht aus den höchsten Gesichts- punkten auszugehen.
Kehre ich jetzt -- nach diesem allgemeinen, auf die Religion und ihren Einfluss im Leben geworfenen Blick -- auf die Frage zurück, ob der Staat durch die Religion auf die Sitten der Bür- ger wirken darf oder nicht? so ist es gewiss, dass die Mittel, welche der Gesetzgeber zum Behuf der moralischen Bildung anwendet, immer in dem Grade nützlich und zweckmässig sind, in welchem sie die innere Entwickelung der Fähigkeiten und Neigungen begünstigen. Denn alle Bildung hat ihren Ursprung allein in dem Innern der Seele, und kann durch äussere Veran- staltungen nur veranlasst, nie hervorgebracht werden. Dass nun die Religion, welche ganz auf Ideen, Empfindungen und innerer Ueberzeugung beruht, ein solches Mittel sei, ist unläug- bar. Wir bilden den Künstler, indem wir sein Auge an den Meisterwerken der Kunst üben, seine Einbildungskraft mit den schönen Gestalten der Produkte des Alterthums nähren. Ebenso muss der sittliche Mensch gebildet werden durch das Anschauen
stehen zu bleiben? Wenn nun alle Religiösität so gänzlich auf den mannigfaltigen Modifikationen des Charakters und vor- züglich des Gefühls beruht; so muss auch ihr Einfluss auf die Sittlichkeit ganz und gar nicht von der Materie gleichsam des Inhalts der angenommenen Sätze, sondern von der Form des Annehmens, der Ueberzeugung, des Glaubens abhängig sein. Diese Bemerkung, die mir gleich in der Folge von grossem Nutzen sein wird, hoffe ich durch das Bisherige hinlänglich gerechtfertigt zu haben. Was ich vielleicht allein hier noch fürchten darf, ist der Vorwurf, in allem, was ich sagte, nur den sehr von der Natur und den Umständen begünstigten, interes- santen, und eben darum seltenen Menschen vor Augen gehabt zu haben. Allein die Folge wird, hoffe ich, zeigen, dass ich den freilich grösseren Haufen keineswegs übersehe, und es scheint mir unedel, überall da, wo es der Mensch ist, welcher die Untersuchung beschäftigt, nicht aus den höchsten Gesichts- punkten auszugehen.
Kehre ich jetzt — nach diesem allgemeinen, auf die Religion und ihren Einfluss im Leben geworfenen Blick — auf die Frage zurück, ob der Staat durch die Religion auf die Sitten der Bür- ger wirken darf oder nicht? so ist es gewiss, dass die Mittel, welche der Gesetzgeber zum Behuf der moralischen Bildung anwendet, immer in dem Grade nützlich und zweckmässig sind, in welchem sie die innere Entwickelung der Fähigkeiten und Neigungen begünstigen. Denn alle Bildung hat ihren Ursprung allein in dem Innern der Seele, und kann durch äussere Veran- staltungen nur veranlasst, nie hervorgebracht werden. Dass nun die Religion, welche ganz auf Ideen, Empfindungen und innerer Ueberzeugung beruht, ein solches Mittel sei, ist unläug- bar. Wir bilden den Künstler, indem wir sein Auge an den Meisterwerken der Kunst üben, seine Einbildungskraft mit den schönen Gestalten der Produkte des Alterthums nähren. Ebenso muss der sittliche Mensch gebildet werden durch das Anschauen
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stehen zu bleiben? Wenn nun alle Religiösität so gänzlich auf
den mannigfaltigen Modifikationen des Charakters und vor-
züglich des Gefühls beruht; so muss auch ihr Einfluss auf die
Sittlichkeit ganz und gar nicht von der Materie gleichsam des
Inhalts der angenommenen Sätze, sondern von der Form des
Annehmens, der Ueberzeugung, des Glaubens abhängig sein.
Diese Bemerkung, die mir gleich in der Folge von grossem
Nutzen sein wird, hoffe ich durch das Bisherige hinlänglich
gerechtfertigt zu haben. Was ich vielleicht allein hier noch
fürchten darf, ist der Vorwurf, in allem, was ich sagte, nur den
sehr von der Natur und den Umständen begünstigten, interes-
santen, und eben darum seltenen Menschen vor Augen gehabt
zu haben. Allein die Folge wird, hoffe ich, zeigen, dass ich
den freilich grösseren Haufen keineswegs übersehe, und es
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Kehre ich jetzt — nach diesem allgemeinen, auf die Religion
und ihren Einfluss im Leben geworfenen Blick — auf die Frage
zurück, ob der Staat durch die Religion auf die Sitten der Bür-
ger wirken darf oder nicht? so ist es gewiss, dass die Mittel,
welche der Gesetzgeber zum Behuf der moralischen Bildung
anwendet, immer in dem Grade nützlich und zweckmässig sind,
in welchem sie die innere Entwickelung der Fähigkeiten und
Neigungen begünstigen. Denn alle Bildung hat ihren Ursprung
allein in dem Innern der Seele, und kann durch äussere Veran-
staltungen nur veranlasst, nie hervorgebracht werden. Dass
nun die Religion, welche ganz auf Ideen, Empfindungen und
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/109>, abgerufen am 17.07.2024.
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