ganzes Leben hindurch ist seine Thätigkeit Bestreben, den Schleier zu durchdringen, seine Wollust Ahnden der Wahrheit in dem Räthsel des Zeichens, Hoffen der unvermittelten An- schauung in anderen Perioden seines Daseins. Wo nun, in wundervoller und schöner Harmonie, nach der unvermittelten Anschauung des wirklichen Daseins der Geist rastlos forscht, und das Herz sehnsuchtsvoll verlangt, wo der Tiefe der Denk- kraft nicht die Dürftigkeit des Begriffs, und der Wärme des Gefühls nicht das Schattenbild der Sinne und der Phantasie genügt; da folgt der Glaube unaufhaltbar dem eigenthüm- lichen Triebe der Vernunft, jeden Begriff, bis zur Hinwegräu- mung aller Schranken, bis zum Ideal zu erweitern, und heftet sich fest an ein Wesen, das alle andre Wesen umschliesst, und rein und ohne Vermittlung existirt, anschaut und schafft. Allein oft beschränkt auch eine genügsame Bescheidenheit den Glauben innerhalb des Gebiets der Erfahrung; oft vergnügt sich zwar das Gefühl gern an dem der Vernunft so eignen Ideal, findet aber einen wollustvolleren Reiz in dem Bestreben, eingeschränkt auf die Welt, für die ihm Empfänglichkeit gewährt ist, die sinnliche und unsinnliche Natur enger zu ver- weben, dem Zeichen einen reicheren Sinn, und der Wahrheit ein verständlicheres, ideenfruchtbareres Zeichen zu leihen; und oft wird so der Mensch für das Entbehren jener trunkenen Begeisterung hoffender Erwartung, indem er seinem Blicke in unendliche Fernen zu schweifen verbietet, durch das ihn immer begleitende Bewusstsein des Gelingens seines Bestrebens ent- schädigt. Sein minder kühner Gang ist doch sichrer; der Begriff des Verstandes, an den er sich festhält, bei minderem Reich- thum, doch klarer; die sinnliche Anschauung, wenn gleich weniger der Wahrheit treu, doch für ihn tauglicher, zur Erfah- rung verbunden zu werden. Nichts bewundert der Geist des Menschen überhaupt so willig und mit so voller Einstimmung seines Gefühls, als weisheitsvolle Ordnung in einer zahllosen
ganzes Leben hindurch ist seine Thätigkeit Bestreben, den Schleier zu durchdringen, seine Wollust Ahnden der Wahrheit in dem Räthsel des Zeichens, Hoffen der unvermittelten An- schauung in anderen Perioden seines Daseins. Wo nun, in wundervoller und schöner Harmonie, nach der unvermittelten Anschauung des wirklichen Daseins der Geist rastlos forscht, und das Herz sehnsuchtsvoll verlangt, wo der Tiefe der Denk- kraft nicht die Dürftigkeit des Begriffs, und der Wärme des Gefühls nicht das Schattenbild der Sinne und der Phantasie genügt; da folgt der Glaube unaufhaltbar dem eigenthüm- lichen Triebe der Vernunft, jeden Begriff, bis zur Hinwegräu- mung aller Schranken, bis zum Ideal zu erweitern, und heftet sich fest an ein Wesen, das alle andre Wesen umschliesst, und rein und ohne Vermittlung existirt, anschaut und schafft. Allein oft beschränkt auch eine genügsame Bescheidenheit den Glauben innerhalb des Gebiets der Erfahrung; oft vergnügt sich zwar das Gefühl gern an dem der Vernunft so eignen Ideal, findet aber einen wollustvolleren Reiz in dem Bestreben, eingeschränkt auf die Welt, für die ihm Empfänglichkeit gewährt ist, die sinnliche und unsinnliche Natur enger zu ver- weben, dem Zeichen einen reicheren Sinn, und der Wahrheit ein verständlicheres, ideenfruchtbareres Zeichen zu leihen; und oft wird so der Mensch für das Entbehren jener trunkenen Begeisterung hoffender Erwartung, indem er seinem Blicke in unendliche Fernen zu schweifen verbietet, durch das ihn immer begleitende Bewusstsein des Gelingens seines Bestrebens ent- schädigt. Sein minder kühner Gang ist doch sichrer; der Begriff des Verstandes, an den er sich festhält, bei minderem Reich- thum, doch klarer; die sinnliche Anschauung, wenn gleich weniger der Wahrheit treu, doch für ihn tauglicher, zur Erfah- rung verbunden zu werden. Nichts bewundert der Geist des Menschen überhaupt so willig und mit so voller Einstimmung seines Gefühls, als weisheitsvolle Ordnung in einer zahllosen
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ganzes Leben hindurch ist seine Thätigkeit Bestreben, den
Schleier zu durchdringen, seine Wollust Ahnden der Wahrheit
in dem Räthsel des Zeichens, Hoffen der unvermittelten An-
schauung in anderen Perioden seines Daseins. Wo nun, in
wundervoller und schöner Harmonie, nach der unvermittelten
Anschauung des wirklichen Daseins der Geist rastlos forscht,
und das Herz sehnsuchtsvoll verlangt, wo der Tiefe der Denk-
kraft nicht die Dürftigkeit des Begriffs, und der Wärme des
Gefühls nicht das Schattenbild der Sinne und der Phantasie
genügt; da folgt der Glaube unaufhaltbar dem eigenthüm-
lichen Triebe der Vernunft, jeden Begriff, bis zur Hinwegräu-
mung aller Schranken, bis zum Ideal zu erweitern, und heftet
sich fest an ein Wesen, das alle andre Wesen umschliesst, und
rein und ohne Vermittlung existirt, anschaut und schafft.
Allein oft beschränkt auch eine genügsame Bescheidenheit den
Glauben innerhalb des Gebiets der Erfahrung; oft vergnügt
sich zwar das Gefühl gern an dem der Vernunft so eignen
Ideal, findet aber einen wollustvolleren Reiz in dem Bestreben,
eingeschränkt auf die Welt, für die ihm Empfänglichkeit
gewährt ist, die sinnliche und unsinnliche Natur enger zu ver-
weben, dem Zeichen einen reicheren Sinn, und der Wahrheit
ein verständlicheres, ideenfruchtbareres Zeichen zu leihen; und
oft wird so der Mensch für das Entbehren jener trunkenen
Begeisterung hoffender Erwartung, indem er seinem Blicke in
unendliche Fernen zu schweifen verbietet, durch das ihn immer
begleitende Bewusstsein des Gelingens seines Bestrebens ent-
schädigt. Sein minder kühner Gang ist doch sichrer; der Begriff
des Verstandes, an den er sich festhält, bei minderem Reich-
thum, doch klarer; die sinnliche Anschauung, wenn gleich
weniger der Wahrheit treu, doch für ihn tauglicher, zur Erfah-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]
Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' zwischen März und Mai des Jahres 1792 nieder. Einzelne Abschnitte wurden im selben Jahr in Friedrich Schillers Thalia bzw. in der Berlinischen Monatsschrift gedruckt. Der gesamte Text wurde jedoch erst postum, 1851, aus dem Nachlass publiziert (Wilhelm von Humboldt † 8. April 1835). Gemäß den Richtlinien des DTA wurde diese Ausgabe digitalisiert.
Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/107>, abgerufen am 17.07.2024.
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