Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851.

Bild:
<< vorherige Seite

Jene Idee der Vollkommenheit wird auch demjenigen unauf-
hörlich vorschweben, der nicht gewohnt ist, die Summe alles
moralisch Guten in Ein Ideal zusammenzufassen, und sich in
Verhältniss zu diesem Wesen zu denken; sie wird ihm Antrieb
zur Thätigkeit, Stoff aller Glückseligkeit sein. Fest durch die
Erfahrung überzeugt, dass seinem Geiste Fortschreiten in
höherer moralischer Stärke möglich ist, wird er mit muthigem
Eifer nach dem Ziele streben, das er sich steckt. Der Gedanke
der Möglichkeit der Vernichtung seines Daseins wird ihn nicht
schrecken, sobald seine täuschende Einbildungskraft nicht mehr
im Nichtsein das Nichtsein noch fühlt. Seine unabänderliche
Abhängigkeit von äusseren Schicksalen drückt ihn nicht;
gleichgültiger gegen äusseres Geniessen und Entbehren, blickt
er nur auf das rein Intellektuelle und Moralische hin, und kein
Schicksal vermag etwas über das Innere seiner Seele. Sein
Geist fühlt sich durch Selbstgenügsamkeit unabhängig, durch
die Fülle seiner Ideen, und das Bewusstsein seiner innern
Stärke über den Wandel der Dinge gehoben. Wenn er nun in
seine Vergangenheit zurückgeht, Schritt vor Schritt aufsucht,
wie er jedes Ereigniss bald auf diese, bald auf jene Weise
benutzte, wie er nach und nach zu dem ward, was er jetzt ist,
wenn er so Ursach und Wirkung, Zweck und Mittel, alles in
sich vereint sieht, und dann, voll des edelsten Stolzes, dessen
endliche Wesen fähig sind, ausruft:

Hast du nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz +)?

wie müssen da in ihm alle die Ideen von Alleinsein, von Hülf-
losigkeit, von Mangel an Schutz und Trost und Beistand ver-
schwinden, die man gewöhnlich da glaubt, wo eine persönliche,
ordnende, vernünftige Ursach der Kette des Endlichen fehlt?
Dieses Selbstgefühl, dieses in und durch sich Sein wird ihn

+) Göthe. Prometheus II. p. 63. (Ausg. v. 1840.)
5*

Jene Idee der Vollkommenheit wird auch demjenigen unauf-
hörlich vorschweben, der nicht gewohnt ist, die Summe alles
moralisch Guten in Ein Ideal zusammenzufassen, und sich in
Verhältniss zu diesem Wesen zu denken; sie wird ihm Antrieb
zur Thätigkeit, Stoff aller Glückseligkeit sein. Fest durch die
Erfahrung überzeugt, dass seinem Geiste Fortschreiten in
höherer moralischer Stärke möglich ist, wird er mit muthigem
Eifer nach dem Ziele streben, das er sich steckt. Der Gedanke
der Möglichkeit der Vernichtung seines Daseins wird ihn nicht
schrecken, sobald seine täuschende Einbildungskraft nicht mehr
im Nichtsein das Nichtsein noch fühlt. Seine unabänderliche
Abhängigkeit von äusseren Schicksalen drückt ihn nicht;
gleichgültiger gegen äusseres Geniessen und Entbehren, blickt
er nur auf das rein Intellektuelle und Moralische hin, und kein
Schicksal vermag etwas über das Innere seiner Seele. Sein
Geist fühlt sich durch Selbstgenügsamkeit unabhängig, durch
die Fülle seiner Ideen, und das Bewusstsein seiner innern
Stärke über den Wandel der Dinge gehoben. Wenn er nun in
seine Vergangenheit zurückgeht, Schritt vor Schritt aufsucht,
wie er jedes Ereigniss bald auf diese, bald auf jene Weise
benutzte, wie er nach und nach zu dem ward, was er jetzt ist,
wenn er so Ursach und Wirkung, Zweck und Mittel, alles in
sich vereint sieht, und dann, voll des edelsten Stolzes, dessen
endliche Wesen fähig sind, ausruft:

Hast du nicht alles selbst vollendet,
Heilig glühend Herz †)?

wie müssen da in ihm alle die Ideen von Alleinsein, von Hülf-
losigkeit, von Mangel an Schutz und Trost und Beistand ver-
schwinden, die man gewöhnlich da glaubt, wo eine persönliche,
ordnende, vernünftige Ursach der Kette des Endlichen fehlt?
Dieses Selbstgefühl, dieses in und durch sich Sein wird ihn

†) Göthe. Prometheus II. p. 63. (Ausg. v. 1840.)
5*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0103" n="67"/>
Jene Idee der Vollkommenheit wird auch demjenigen unauf-<lb/>
hörlich vorschweben, der nicht gewohnt ist, die Summe alles<lb/>
moralisch Guten in Ein Ideal zusammenzufassen, und sich in<lb/>
Verhältniss zu diesem Wesen zu denken; sie wird ihm Antrieb<lb/>
zur Thätigkeit, Stoff aller Glückseligkeit sein. Fest durch die<lb/>
Erfahrung überzeugt, dass seinem Geiste Fortschreiten in<lb/>
höherer moralischer Stärke möglich ist, wird er mit muthigem<lb/>
Eifer nach dem Ziele streben, das er sich steckt. Der Gedanke<lb/>
der Möglichkeit der Vernichtung seines Daseins wird ihn nicht<lb/>
schrecken, sobald seine täuschende Einbildungskraft nicht mehr<lb/>
im Nichtsein das Nichtsein noch fühlt. Seine unabänderliche<lb/>
Abhängigkeit von äusseren Schicksalen drückt ihn nicht;<lb/>
gleichgültiger gegen äusseres Geniessen und Entbehren, blickt<lb/>
er nur auf das rein Intellektuelle und Moralische hin, und kein<lb/>
Schicksal vermag etwas über das Innere seiner Seele. Sein<lb/>
Geist fühlt sich durch Selbstgenügsamkeit unabhängig, durch<lb/>
die Fülle seiner Ideen, und das Bewusstsein seiner innern<lb/>
Stärke über den Wandel der Dinge gehoben. Wenn er nun in<lb/>
seine Vergangenheit zurückgeht, Schritt vor Schritt aufsucht,<lb/>
wie er jedes Ereigniss bald auf diese, bald auf jene Weise<lb/>
benutzte, wie er nach und nach zu dem ward, was er jetzt ist,<lb/>
wenn er so Ursach und Wirkung, Zweck und Mittel, alles in<lb/>
sich vereint sieht, und dann, voll des edelsten Stolzes, dessen<lb/>
endliche Wesen fähig sind, ausruft:</p><lb/>
        <lg type="poem">
          <l>Hast du nicht alles selbst vollendet,</l><lb/>
          <l>Heilig glühend Herz <note place="foot" n="&#x2020;)">Göthe. Prometheus II. p. 63. (Ausg. v. 1840.)</note>?</l>
        </lg><lb/>
        <p>wie müssen da in ihm alle die Ideen von Alleinsein, von Hülf-<lb/>
losigkeit, von Mangel an Schutz und Trost und Beistand ver-<lb/>
schwinden, die man gewöhnlich da glaubt, wo eine persönliche,<lb/>
ordnende, vernünftige Ursach der Kette des Endlichen fehlt?<lb/>
Dieses Selbstgefühl, dieses in und durch sich Sein wird ihn<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">5*</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[67/0103] Jene Idee der Vollkommenheit wird auch demjenigen unauf- hörlich vorschweben, der nicht gewohnt ist, die Summe alles moralisch Guten in Ein Ideal zusammenzufassen, und sich in Verhältniss zu diesem Wesen zu denken; sie wird ihm Antrieb zur Thätigkeit, Stoff aller Glückseligkeit sein. Fest durch die Erfahrung überzeugt, dass seinem Geiste Fortschreiten in höherer moralischer Stärke möglich ist, wird er mit muthigem Eifer nach dem Ziele streben, das er sich steckt. Der Gedanke der Möglichkeit der Vernichtung seines Daseins wird ihn nicht schrecken, sobald seine täuschende Einbildungskraft nicht mehr im Nichtsein das Nichtsein noch fühlt. Seine unabänderliche Abhängigkeit von äusseren Schicksalen drückt ihn nicht; gleichgültiger gegen äusseres Geniessen und Entbehren, blickt er nur auf das rein Intellektuelle und Moralische hin, und kein Schicksal vermag etwas über das Innere seiner Seele. Sein Geist fühlt sich durch Selbstgenügsamkeit unabhängig, durch die Fülle seiner Ideen, und das Bewusstsein seiner innern Stärke über den Wandel der Dinge gehoben. Wenn er nun in seine Vergangenheit zurückgeht, Schritt vor Schritt aufsucht, wie er jedes Ereigniss bald auf diese, bald auf jene Weise benutzte, wie er nach und nach zu dem ward, was er jetzt ist, wenn er so Ursach und Wirkung, Zweck und Mittel, alles in sich vereint sieht, und dann, voll des edelsten Stolzes, dessen endliche Wesen fähig sind, ausruft: Hast du nicht alles selbst vollendet, Heilig glühend Herz †)? wie müssen da in ihm alle die Ideen von Alleinsein, von Hülf- losigkeit, von Mangel an Schutz und Trost und Beistand ver- schwinden, die man gewöhnlich da glaubt, wo eine persönliche, ordnende, vernünftige Ursach der Kette des Endlichen fehlt? Dieses Selbstgefühl, dieses in und durch sich Sein wird ihn †) Göthe. Prometheus II. p. 63. (Ausg. v. 1840.) 5*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Wilhelm von Humboldt schrieb seine 'Ideen zu eine… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/103
Zitationshilfe: Humboldt, Wilhelm von: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Breslau, 1851, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_grenzen_1851/103>, abgerufen am 22.11.2024.