bleiben alle stehen und machen kleine schwingende Bewegungen, indem sie den Körper seitlich hin und her werfen. Jene in eine Reihe geordneten und zusammengebundenen Rohrstücke gleichen der Pansflöte, wie wir sie bei bacchischen Aufzügen auf großgriechischen Vasen abgebildet sehen. Es ist ein höchst einfacher Gedanke, der allen Völkern kommen mußte, Rohre von verschiedener Länge zu vereinigen und sie nacheinander, während man sie an den Lippen vorbeiführt, anzublasen. Nicht ohne Verwunderung sahen wir, wie rasch junge In- dianer, wenn sie am Flusse Rohr (carices) fanden, dergleichen Pfeifen schnitten und stimmten. In allen Himmelsstrichen leisten diese Gräser mit hohem Halme den Menschen im Na- turzustande mancherlei Dienste. Die Griechen sagten mit Recht, das Rohr sei ein Mittel gewesen zur Unterjochung der Völker, weil es Pfeile liefere, zur Milderung der Sitten durch den Reiz der Musik, zur Geistesentwickelung, weil es das erste Werkzeug geboten, mit dem man Buchstaben geschrieben. Diese verschiedenen Verwendungsarten des Rohres bezeichnen gleich- sam drei Abschnitte im Leben der Völker. Die Horden am Orinoko stehen unleugbar auf der untersten Stufe einer be- ginnenden Kulturentwickelung. Das Rohr dient ihnen nur zu Krieg und Jagd und Pans Flöte sind auf jenen fernen Ufern noch keine Töne entlockt worden, die sanfte, menschliche Empfindungen wecken können.
In der Festhütte fanden wir verschiedene vegetabilische Produkte, welche die Indianer aus den Bergen von Guanaya mitgebracht und die unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen. Ich verweile hier nur bei der Frucht des Juvia, bei den Rohren von ganz ungewöhnlicher Länge und bei den Hemden aus der Rinde des Marimabaumes. Der Almen- dron oder Juvia, einer der großartigsten Bäume in den Wäldern der Neuen Welt, war vor unserer Reise an den Rio Negro so gut wie unbekannt. Vier Tagereisen östlich von Esmeralda, zwischen dem Padamo und dem Ocamo am Fuße des Cerro Mapaya, am rechten Ufer des Orinoko, tritt er nach und nach auf; noch häufiger ist er auf dem linken Ufer beim Cerro Guanaya zwischen dem Rio Amaguaca und dem Gehete. Die Einwohner von Esmeralda versicherten uns, oberhalb des Gehete und des Chiguire werde der Juvia und der Kakaobaum so gemein, daß die wilden Indianer (die Guaicas und Guaharibos blancos) die Indianer aus den Missionen ungestört die Früchte sammeln lassen. Sie miß-
bleiben alle ſtehen und machen kleine ſchwingende Bewegungen, indem ſie den Körper ſeitlich hin und her werfen. Jene in eine Reihe geordneten und zuſammengebundenen Rohrſtücke gleichen der Pansflöte, wie wir ſie bei bacchiſchen Aufzügen auf großgriechiſchen Vaſen abgebildet ſehen. Es iſt ein höchſt einfacher Gedanke, der allen Völkern kommen mußte, Rohre von verſchiedener Länge zu vereinigen und ſie nacheinander, während man ſie an den Lippen vorbeiführt, anzublaſen. Nicht ohne Verwunderung ſahen wir, wie raſch junge In- dianer, wenn ſie am Fluſſe Rohr (carices) fanden, dergleichen Pfeifen ſchnitten und ſtimmten. In allen Himmelsſtrichen leiſten dieſe Gräſer mit hohem Halme den Menſchen im Na- turzuſtande mancherlei Dienſte. Die Griechen ſagten mit Recht, das Rohr ſei ein Mittel geweſen zur Unterjochung der Völker, weil es Pfeile liefere, zur Milderung der Sitten durch den Reiz der Muſik, zur Geiſtesentwickelung, weil es das erſte Werkzeug geboten, mit dem man Buchſtaben geſchrieben. Dieſe verſchiedenen Verwendungsarten des Rohres bezeichnen gleich- ſam drei Abſchnitte im Leben der Völker. Die Horden am Orinoko ſtehen unleugbar auf der unterſten Stufe einer be- ginnenden Kulturentwickelung. Das Rohr dient ihnen nur zu Krieg und Jagd und Pans Flöte ſind auf jenen fernen Ufern noch keine Töne entlockt worden, die ſanfte, menſchliche Empfindungen wecken können.
In der Feſthütte fanden wir verſchiedene vegetabiliſche Produkte, welche die Indianer aus den Bergen von Guanaya mitgebracht und die unſere ganze Aufmerkſamkeit in Anſpruch nahmen. Ich verweile hier nur bei der Frucht des Juvia, bei den Rohren von ganz ungewöhnlicher Länge und bei den Hemden aus der Rinde des Marimabaumes. Der Almen- dron oder Juvia, einer der großartigſten Bäume in den Wäldern der Neuen Welt, war vor unſerer Reiſe an den Rio Negro ſo gut wie unbekannt. Vier Tagereiſen öſtlich von Esmeralda, zwiſchen dem Padamo und dem Ocamo am Fuße des Cerro Mapaya, am rechten Ufer des Orinoko, tritt er nach und nach auf; noch häufiger iſt er auf dem linken Ufer beim Cerro Guanaya zwiſchen dem Rio Amaguaca und dem Gehete. Die Einwohner von Esmeralda verſicherten uns, oberhalb des Gehete und des Chiguire werde der Juvia und der Kakaobaum ſo gemein, daß die wilden Indianer (die Guaicas und Guaharibos blancos) die Indianer aus den Miſſionen ungeſtört die Früchte ſammeln laſſen. Sie miß-
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bleiben alle ſtehen und machen kleine ſchwingende Bewegungen,
indem ſie den Körper ſeitlich hin und her werfen. Jene in
eine Reihe geordneten und zuſammengebundenen Rohrſtücke
gleichen der Pansflöte, wie wir ſie bei bacchiſchen Aufzügen
auf großgriechiſchen Vaſen abgebildet ſehen. Es iſt ein höchſt
einfacher Gedanke, der allen Völkern kommen mußte, Rohre
von verſchiedener Länge zu vereinigen und ſie nacheinander,
während man ſie an den Lippen vorbeiführt, anzublaſen.
Nicht ohne Verwunderung ſahen wir, wie raſch junge In-
dianer, wenn ſie am Fluſſe Rohr (carices) fanden, dergleichen
Pfeifen ſchnitten und ſtimmten. In allen Himmelsſtrichen
leiſten dieſe Gräſer mit hohem Halme den Menſchen im Na-
turzuſtande mancherlei Dienſte. Die Griechen ſagten mit Recht,
das Rohr ſei ein Mittel geweſen zur Unterjochung der Völker,
weil es Pfeile liefere, zur Milderung der Sitten durch den
Reiz der Muſik, zur Geiſtesentwickelung, weil es das erſte
Werkzeug geboten, mit dem man Buchſtaben geſchrieben. Dieſe
verſchiedenen Verwendungsarten des Rohres bezeichnen gleich-
ſam drei Abſchnitte im Leben der Völker. Die Horden am
Orinoko ſtehen unleugbar auf der unterſten Stufe einer be-
ginnenden Kulturentwickelung. Das Rohr dient ihnen nur
zu Krieg und Jagd und Pans Flöte ſind auf jenen fernen
Ufern noch keine Töne entlockt worden, die ſanfte, menſchliche
Empfindungen wecken können.
In der Feſthütte fanden wir verſchiedene vegetabiliſche
Produkte, welche die Indianer aus den Bergen von Guanaya
mitgebracht und die unſere ganze Aufmerkſamkeit in Anſpruch
nahmen. Ich verweile hier nur bei der Frucht des Juvia,
bei den Rohren von ganz ungewöhnlicher Länge und bei den
Hemden aus der Rinde des Marimabaumes. Der Almen-
dron oder Juvia, einer der großartigſten Bäume in den
Wäldern der Neuen Welt, war vor unſerer Reiſe an den Rio
Negro ſo gut wie unbekannt. Vier Tagereiſen öſtlich von
Esmeralda, zwiſchen dem Padamo und dem Ocamo am Fuße
des Cerro Mapaya, am rechten Ufer des Orinoko, tritt er
nach und nach auf; noch häufiger iſt er auf dem linken Ufer
beim Cerro Guanaya zwiſchen dem Rio Amaguaca und dem
Gehete. Die Einwohner von Esmeralda verſicherten uns,
oberhalb des Gehete und des Chiguire werde der Juvia
und der Kakaobaum ſo gemein, daß die wilden Indianer (die
Guaicas und Guaharibos blancos) die Indianer aus den
Miſſionen ungeſtört die Früchte ſammeln laſſen. Sie miß-
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/79>, abgerufen am 27.07.2024.
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