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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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eine Kordillere über das Flußbett laufen sollte. Befände sich
an diesem Punkt eine Wasserscheide, so hätte ich die ersten
90 km westwärts von Esmeralda einen Fluß hinauf, statt,
wie ich gethan, mit rascher Strömung hinab fahren müssen.
Derselbe Fluß, der ostwärts von dieser Mission entspringt
und einen Arm (den Cassiquiare) an den Rio Negro abgibt,
läuft ohne Unterbrechung Santa Barbara und San Fernando
de Atabapo zu. Es ist dies das Stück des Orinoko, das
von Südost nach Nordwest gerichtet ist und bei den Indianern
Rio Paragua heißt. Nachdem er seine Gewässer mit denen
des Guaviare und des Atabapo vermischt, wendet sich der-
selbe Fluß gegen Norden und geht durch die großen Kata-
rakten. Alle diese Punkte sind auf der großen Karte von
La Cruz im ganzen gut angegeben; ohne Zweifel hat aber
Buache vorausgesetzt, bei den verschiedenen Fahrten, die
zwischen Amazonenstrom und Orinoko ausgeführt worden sein
sollten, seien die Kanoen von einem Nebenfluß zum anderen
über irgend einen Trageplatz (arastradero) geschleppt worden.
Dem geachteten Geographen lag die Annahme, die Flüsse
laufen in Wirklichkeit nicht so, wie die neueren spanischen
Karten angeben, desto näher, als auf denselben Karten um
den See Parime herum (das angebliche, 12 150 qkm große
Weiße Meer) die seltsamsten, unwahrscheinlichsten Flußver-
zweigungen vorkommen. Man könnte auf den Orinoko an-
wenden, was Pater Acunda vom Amazonenstrom sagt, dessen
Wunder er beschreibt: "Nacieron hermanadas en las cosas
grandes la novedad y el descredito."
1

Hätten die Völker in den Niederungen von Südamerika
teilgehabt an der Kultur, welche in der kalten Alpenregion
verbreitet war, so hätte dieses ungeheure Mesopotamien zwischen
Orinoko und Amazonenstrom die Entwickelung ihres Gewerbe-
fleißes gefördert, ihren Handel belebt, den gesellschaftlichen
Fortschritt beschleunigt. In der Alten Welt sehen wir überall
einen solchen Einfluß der Oertlichkeit auf die keimende Kultur
der Völker. Die Insel Meroe zwischen dem Astaboras und
dem Nil, das Pendschab des Indus, das Duab des Ganges,
das Mesopotamien des Euphrat sind glänzende Belege dafür
in den Annalen des Menschengeschlechts. Aber die schwachen

1 In großen Dingen (bei außerordentlichen Naturerscheinungen)
gehen Neuheit und Unglauben Hand in Hand.

eine Kordillere über das Flußbett laufen ſollte. Befände ſich
an dieſem Punkt eine Waſſerſcheide, ſo hätte ich die erſten
90 km weſtwärts von Esmeralda einen Fluß hinauf, ſtatt,
wie ich gethan, mit raſcher Strömung hinab fahren müſſen.
Derſelbe Fluß, der oſtwärts von dieſer Miſſion entſpringt
und einen Arm (den Caſſiquiare) an den Rio Negro abgibt,
läuft ohne Unterbrechung Santa Barbara und San Fernando
de Atabapo zu. Es iſt dies das Stück des Orinoko, das
von Südoſt nach Nordweſt gerichtet iſt und bei den Indianern
Rio Paragua heißt. Nachdem er ſeine Gewäſſer mit denen
des Guaviare und des Atabapo vermiſcht, wendet ſich der-
ſelbe Fluß gegen Norden und geht durch die großen Kata-
rakten. Alle dieſe Punkte ſind auf der großen Karte von
La Cruz im ganzen gut angegeben; ohne Zweifel hat aber
Buache vorausgeſetzt, bei den verſchiedenen Fahrten, die
zwiſchen Amazonenſtrom und Orinoko ausgeführt worden ſein
ſollten, ſeien die Kanoen von einem Nebenfluß zum anderen
über irgend einen Trageplatz (arastradero) geſchleppt worden.
Dem geachteten Geographen lag die Annahme, die Flüſſe
laufen in Wirklichkeit nicht ſo, wie die neueren ſpaniſchen
Karten angeben, deſto näher, als auf denſelben Karten um
den See Parime herum (das angebliche, 12 150 qkm große
Weiße Meer) die ſeltſamſten, unwahrſcheinlichſten Flußver-
zweigungen vorkommen. Man könnte auf den Orinoko an-
wenden, was Pater Acuña vom Amazonenſtrom ſagt, deſſen
Wunder er beſchreibt: „Nacieron hermanadas en las cosas
grandes la novedad y el descredito.“
1

Hätten die Völker in den Niederungen von Südamerika
teilgehabt an der Kultur, welche in der kalten Alpenregion
verbreitet war, ſo hätte dieſes ungeheure Meſopotamien zwiſchen
Orinoko und Amazonenſtrom die Entwickelung ihres Gewerbe-
fleißes gefördert, ihren Handel belebt, den geſellſchaftlichen
Fortſchritt beſchleunigt. In der Alten Welt ſehen wir überall
einen ſolchen Einfluß der Oertlichkeit auf die keimende Kultur
der Völker. Die Inſel Meroe zwiſchen dem Aſtaboras und
dem Nil, das Pendſchab des Indus, das Duab des Ganges,
das Meſopotamien des Euphrat ſind glänzende Belege dafür
in den Annalen des Menſchengeſchlechts. Aber die ſchwachen

1 In großen Dingen (bei außerordentlichen Naturerſcheinungen)
gehen Neuheit und Unglauben Hand in Hand.
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[51/0059] eine Kordillere über das Flußbett laufen ſollte. Befände ſich an dieſem Punkt eine Waſſerſcheide, ſo hätte ich die erſten 90 km weſtwärts von Esmeralda einen Fluß hinauf, ſtatt, wie ich gethan, mit raſcher Strömung hinab fahren müſſen. Derſelbe Fluß, der oſtwärts von dieſer Miſſion entſpringt und einen Arm (den Caſſiquiare) an den Rio Negro abgibt, läuft ohne Unterbrechung Santa Barbara und San Fernando de Atabapo zu. Es iſt dies das Stück des Orinoko, das von Südoſt nach Nordweſt gerichtet iſt und bei den Indianern Rio Paragua heißt. Nachdem er ſeine Gewäſſer mit denen des Guaviare und des Atabapo vermiſcht, wendet ſich der- ſelbe Fluß gegen Norden und geht durch die großen Kata- rakten. Alle dieſe Punkte ſind auf der großen Karte von La Cruz im ganzen gut angegeben; ohne Zweifel hat aber Buache vorausgeſetzt, bei den verſchiedenen Fahrten, die zwiſchen Amazonenſtrom und Orinoko ausgeführt worden ſein ſollten, ſeien die Kanoen von einem Nebenfluß zum anderen über irgend einen Trageplatz (arastradero) geſchleppt worden. Dem geachteten Geographen lag die Annahme, die Flüſſe laufen in Wirklichkeit nicht ſo, wie die neueren ſpaniſchen Karten angeben, deſto näher, als auf denſelben Karten um den See Parime herum (das angebliche, 12 150 qkm große Weiße Meer) die ſeltſamſten, unwahrſcheinlichſten Flußver- zweigungen vorkommen. Man könnte auf den Orinoko an- wenden, was Pater Acuña vom Amazonenſtrom ſagt, deſſen Wunder er beſchreibt: „Nacieron hermanadas en las cosas grandes la novedad y el descredito.“ 1 Hätten die Völker in den Niederungen von Südamerika teilgehabt an der Kultur, welche in der kalten Alpenregion verbreitet war, ſo hätte dieſes ungeheure Meſopotamien zwiſchen Orinoko und Amazonenſtrom die Entwickelung ihres Gewerbe- fleißes gefördert, ihren Handel belebt, den geſellſchaftlichen Fortſchritt beſchleunigt. In der Alten Welt ſehen wir überall einen ſolchen Einfluß der Oertlichkeit auf die keimende Kultur der Völker. Die Inſel Meroe zwiſchen dem Aſtaboras und dem Nil, das Pendſchab des Indus, das Duab des Ganges, das Meſopotamien des Euphrat ſind glänzende Belege dafür in den Annalen des Menſchengeſchlechts. Aber die ſchwachen 1 In großen Dingen (bei außerordentlichen Naturerſcheinungen) gehen Neuheit und Unglauben Hand in Hand.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/59>, abgerufen am 22.11.2024.