des oberen Orinoko ist eine zu großartige Erscheinung, als daß die kleinen Umwandlungen, die wir an der Erdoberfläche vorgehen sehen, demselben ein Ende machen oder auch nur viel daran verändern könnten. Wir bestreiten nicht, vollends wenn es sich von minder breiten und sehr langsam strömen- den Gewässern handelt, daß alle Flüsse eine Neigung haben, ihre Verzweigungen zu vermindern und ihre Becken zu isolieren. Die majestätischten Ströme erscheinen, wenn man die steilen Hänge der alten weitab liegenden Ufer betrachtet, nur als Wasserfäden, die sich durch Thäler winden, die sie selbst sich nicht haben graben können. Der heutige Zustand ihres Bettes weist deutlich darauf hin, daß die strömenden Gewässer all- mählich abgenommen haben. Ueberall treffen wir die Spuren alter ausgetrockneter Arme und Gabelungen, für die kaum ein historisches Zeugnis vorliegt. Die verschiedenen, mehr oder weniger parallelen Rinnen, aus denen die Betten der amerikanischen Flüsse bestehen, und die sie weit wasserreicher erscheinen lassen, als sie wirklich sind, verändern allgemach ihre Richtung; sie werden breiter und verschmelzen dadurch, daß die Längsgräten zwischen denselben abbröckeln. Was an- fangs nur ein Arm war, wird bald der einzige Wasserbe- hälter, und bei Strömen, die langsam ziehen, verschwinden die Gabelteilungen oder Verzweigungen zwischen zwei hydrau- lischen Systemen auf dreierlei Wegen: entweder der Ver- bindungskanal zieht den ganzen gegabelten Strom in sein Becken hinüber, oder der Kanal verstopft sich durch Anschwem- mungen an der Stelle, wo er vom Strome abgeht, oder endlich in der Mitte seines Laufes bildet sich ein Querkamm, eine Wasserscheide, wodurch das obere Stück einen Gegenhang erhält und das Wasser in umgekehrter Richtung zurückfließt. Sehr niedrige und großen periodischen Ueberschwemmungen ausgesetzte Länder, wie Guyana in Amerika und Dar-Saley oder Bagirmi in Afrika, 1 geben uns ein Bild davon, wie viel häufiger dergleichen Verbindungen durch natürliche Kanäle früher gewesen sein mögen als jetzt.
Nachdem ich die Gabelteilung des Orinoko aus dem Ge- sichtspunkte der vergleichen den Hydrographie betrachtet,
1 Südöstlich von Bornu und dem See No, in dem Teile von Sudan, wo, nach den letzten Ermittelungen meines unglücklichen Freundes Ritchie, der Nigir den Schari aufnimmt und sich in den Weißen Nil ergießt.
des oberen Orinoko iſt eine zu großartige Erſcheinung, als daß die kleinen Umwandlungen, die wir an der Erdoberfläche vorgehen ſehen, demſelben ein Ende machen oder auch nur viel daran verändern könnten. Wir beſtreiten nicht, vollends wenn es ſich von minder breiten und ſehr langſam ſtrömen- den Gewäſſern handelt, daß alle Flüſſe eine Neigung haben, ihre Verzweigungen zu vermindern und ihre Becken zu iſolieren. Die majeſtätiſchten Ströme erſcheinen, wenn man die ſteilen Hänge der alten weitab liegenden Ufer betrachtet, nur als Waſſerfäden, die ſich durch Thäler winden, die ſie ſelbſt ſich nicht haben graben können. Der heutige Zuſtand ihres Bettes weiſt deutlich darauf hin, daß die ſtrömenden Gewäſſer all- mählich abgenommen haben. Ueberall treffen wir die Spuren alter ausgetrockneter Arme und Gabelungen, für die kaum ein hiſtoriſches Zeugnis vorliegt. Die verſchiedenen, mehr oder weniger parallelen Rinnen, aus denen die Betten der amerikaniſchen Flüſſe beſtehen, und die ſie weit waſſerreicher erſcheinen laſſen, als ſie wirklich ſind, verändern allgemach ihre Richtung; ſie werden breiter und verſchmelzen dadurch, daß die Längsgräten zwiſchen denſelben abbröckeln. Was an- fangs nur ein Arm war, wird bald der einzige Waſſerbe- hälter, und bei Strömen, die langſam ziehen, verſchwinden die Gabelteilungen oder Verzweigungen zwiſchen zwei hydrau- liſchen Syſtemen auf dreierlei Wegen: entweder der Ver- bindungskanal zieht den ganzen gegabelten Strom in ſein Becken hinüber, oder der Kanal verſtopft ſich durch Anſchwem- mungen an der Stelle, wo er vom Strome abgeht, oder endlich in der Mitte ſeines Laufes bildet ſich ein Querkamm, eine Waſſerſcheide, wodurch das obere Stück einen Gegenhang erhält und das Waſſer in umgekehrter Richtung zurückfließt. Sehr niedrige und großen periodiſchen Ueberſchwemmungen ausgeſetzte Länder, wie Guyana in Amerika und Dar-Saley oder Bagirmi in Afrika, 1 geben uns ein Bild davon, wie viel häufiger dergleichen Verbindungen durch natürliche Kanäle früher geweſen ſein mögen als jetzt.
Nachdem ich die Gabelteilung des Orinoko aus dem Ge- ſichtspunkte der vergleichen den Hydrographie betrachtet,
1 Südöſtlich von Bornu und dem See No, in dem Teile von Sudan, wo, nach den letzten Ermittelungen meines unglücklichen Freundes Ritchie, der Nigir den Schari aufnimmt und ſich in den Weißen Nil ergießt.
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des oberen Orinoko iſt eine zu großartige Erſcheinung, als
daß die kleinen Umwandlungen, die wir an der Erdoberfläche
vorgehen ſehen, demſelben ein Ende machen oder auch nur
viel daran verändern könnten. Wir beſtreiten nicht, vollends
wenn es ſich von minder breiten und ſehr langſam ſtrömen-
den Gewäſſern handelt, daß alle Flüſſe eine Neigung haben,
ihre Verzweigungen zu vermindern und ihre Becken zu iſolieren.
Die majeſtätiſchten Ströme erſcheinen, wenn man die ſteilen
Hänge der alten weitab liegenden Ufer betrachtet, nur als
Waſſerfäden, die ſich durch Thäler winden, die ſie ſelbſt ſich
nicht haben graben können. Der heutige Zuſtand ihres Bettes
weiſt deutlich darauf hin, daß die ſtrömenden Gewäſſer all-
mählich abgenommen haben. Ueberall treffen wir die Spuren
alter ausgetrockneter Arme und Gabelungen, für die kaum
ein hiſtoriſches Zeugnis vorliegt. Die verſchiedenen, mehr
oder weniger parallelen Rinnen, aus denen die Betten der
amerikaniſchen Flüſſe beſtehen, und die ſie weit waſſerreicher
erſcheinen laſſen, als ſie wirklich ſind, verändern allgemach
ihre Richtung; ſie werden breiter und verſchmelzen dadurch,
daß die Längsgräten zwiſchen denſelben abbröckeln. Was an-
fangs nur ein Arm war, wird bald der einzige Waſſerbe-
hälter, und bei Strömen, die langſam ziehen, verſchwinden
die Gabelteilungen oder Verzweigungen zwiſchen zwei hydrau-
liſchen Syſtemen auf dreierlei Wegen: entweder der Ver-
bindungskanal zieht den ganzen gegabelten Strom in ſein
Becken hinüber, oder der Kanal verſtopft ſich durch Anſchwem-
mungen an der Stelle, wo er vom Strome abgeht, oder endlich
in der Mitte ſeines Laufes bildet ſich ein Querkamm, eine
Waſſerſcheide, wodurch das obere Stück einen Gegenhang
erhält und das Waſſer in umgekehrter Richtung zurückfließt.
Sehr niedrige und großen periodiſchen Ueberſchwemmungen
ausgeſetzte Länder, wie Guyana in Amerika und Dar-Saley
oder Bagirmi in Afrika, 1 geben uns ein Bild davon, wie
viel häufiger dergleichen Verbindungen durch natürliche Kanäle
früher geweſen ſein mögen als jetzt.
Nachdem ich die Gabelteilung des Orinoko aus dem Ge-
ſichtspunkte der vergleichen den Hydrographie betrachtet,
1 Südöſtlich von Bornu und dem See No, in dem Teile von
Sudan, wo, nach den letzten Ermittelungen meines unglücklichen
Freundes Ritchie, der Nigir den Schari aufnimmt und ſich in den
Weißen Nil ergießt.
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/47>, abgerufen am 16.02.2025.
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