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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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besteht aus verschiedenen Systemen alternativer Hänge, 1 und
diese Systeme sind voneinander durch sekundäre Wasser-
scheiden von so geringer Höhe getrennt, daß das Auge sie
fast nicht bemerkt. Eine ununterbrochene, waldbedeckte Ebene
füllt den ungeheuren Raum zwischen 31/2° nördlicher und
dem 14. Grad südlicher Breite, zwischen der Kordillere der
Parime und der Kordillere von Chiquitos und der brasilia-
nischen. Bis zum Parallel der Quellen des Rio Temi (2° 45'
nördlicher Breite), auf einer Oberfläche von 4131000 qkm, 2
laufen alle Gewässer dem Amazonenstrom als Hauptbehälter
zu; aber weiter gegen Norden hat infolge eigentümlicher Ter-
rainbildung auf einer Fläche von nicht 30000 qkm ein anderer
großer Strom, der Orinoko, sein eigenes hydraulisches System.
Die Centralebene von Südamerika umfaßt also zwei Strom-
becken
; denn ein Becken ist die Gesamtheit aller umliegenden
Bodenflächen, deren stärkste Falllinien dem Thalwege, das heißt
der Längenvertiefung, welche das Bett des Hauptbehälters
bildet, zulaufen. Auf dem kurzen Striche zwischen dem 68.
und 70. Grad der Länge nimmt der Orinoko die Gewässer
auf, die vom Südabhange der Kordillere der Parime herab-
kommen; aber die Nebenflüsse, die am selben Abhange östlich
vom Meridian von 68° zwischen dem Berge Maraguaca und
den Bergen des portugiesischen Guyana entspringen, gehen
in den Amazonenstrom. Also nur auf einer 225 km langen
Strecke haben in diesem ungeheuren Thale unter dem Aequator
die Bodenflächen zunächst am Fuße der Kordillere der Parime
ihren stärksten Fall in einer Richtung, die aus dem Thale
hinaus
zuerst nordwärts, dann ostwärts weist. In Ungarn
sehen wir einen ähnlichen, sehr merkwürdigen Fall, wo Flüsse,
die südwärts von einer Bergkette entspringen, dem hydrau-
lischen Systeme des Nordhanges angehören. Die Wasserscheide
zwischen dem Baltischen und dem Schwarzen Meere liegt südlich
der Tatra, einem Ausläufer der Karpathen, zwischen Teplicz
und Ganocz, auf einem nur 580 m hohen Plateau. Waag
und Hernad laufen südwärts der Donau zu, während der
Poprad um das Tatragebirge gegen West herumläuft und
mit dem Dunajetz nordwärts der Weichsel zufließt. Der
Poprad, der seiner Lage nach zu den Gewässern zu gehören

1 Hänge, die in entgegengesetzter Richtung gegen den Horizont
geneigt sind.
2 Eine Oberfläche zehnmal größer als Frankreich.

beſteht aus verſchiedenen Syſtemen alternativer Hänge, 1 und
dieſe Syſteme ſind voneinander durch ſekundäre Waſſer-
ſcheiden von ſo geringer Höhe getrennt, daß das Auge ſie
faſt nicht bemerkt. Eine ununterbrochene, waldbedeckte Ebene
füllt den ungeheuren Raum zwiſchen 3½° nördlicher und
dem 14. Grad ſüdlicher Breite, zwiſchen der Kordillere der
Parime und der Kordillere von Chiquitos und der braſilia-
niſchen. Bis zum Parallel der Quellen des Rio Temi (2° 45′
nördlicher Breite), auf einer Oberfläche von 4131000 qkm, 2
laufen alle Gewäſſer dem Amazonenſtrom als Hauptbehälter
zu; aber weiter gegen Norden hat infolge eigentümlicher Ter-
rainbildung auf einer Fläche von nicht 30000 qkm ein anderer
großer Strom, der Orinoko, ſein eigenes hydrauliſches Syſtem.
Die Centralebene von Südamerika umfaßt alſo zwei Strom-
becken
; denn ein Becken iſt die Geſamtheit aller umliegenden
Bodenflächen, deren ſtärkſte Falllinien dem Thalwege, das heißt
der Längenvertiefung, welche das Bett des Hauptbehälters
bildet, zulaufen. Auf dem kurzen Striche zwiſchen dem 68.
und 70. Grad der Länge nimmt der Orinoko die Gewäſſer
auf, die vom Südabhange der Kordillere der Parime herab-
kommen; aber die Nebenflüſſe, die am ſelben Abhange öſtlich
vom Meridian von 68° zwiſchen dem Berge Maraguaca und
den Bergen des portugieſiſchen Guyana entſpringen, gehen
in den Amazonenſtrom. Alſo nur auf einer 225 km langen
Strecke haben in dieſem ungeheuren Thale unter dem Aequator
die Bodenflächen zunächſt am Fuße der Kordillere der Parime
ihren ſtärkſten Fall in einer Richtung, die aus dem Thale
hinaus
zuerſt nordwärts, dann oſtwärts weiſt. In Ungarn
ſehen wir einen ähnlichen, ſehr merkwürdigen Fall, wo Flüſſe,
die ſüdwärts von einer Bergkette entſpringen, dem hydrau-
liſchen Syſteme des Nordhanges angehören. Die Waſſerſcheide
zwiſchen dem Baltiſchen und dem Schwarzen Meere liegt ſüdlich
der Tatra, einem Ausläufer der Karpathen, zwiſchen Teplicz
und Ganocz, auf einem nur 580 m hohen Plateau. Waag
und Hernad laufen ſüdwärts der Donau zu, während der
Poprad um das Tatragebirge gegen Weſt herumläuft und
mit dem Dunajetz nordwärts der Weichſel zufließt. Der
Poprad, der ſeiner Lage nach zu den Gewäſſern zu gehören

1 Hänge, die in entgegengeſetzter Richtung gegen den Horizont
geneigt ſind.
2 Eine Oberfläche zehnmal größer als Frankreich.
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[34/0042] beſteht aus verſchiedenen Syſtemen alternativer Hänge, 1 und dieſe Syſteme ſind voneinander durch ſekundäre Waſſer- ſcheiden von ſo geringer Höhe getrennt, daß das Auge ſie faſt nicht bemerkt. Eine ununterbrochene, waldbedeckte Ebene füllt den ungeheuren Raum zwiſchen 3½° nördlicher und dem 14. Grad ſüdlicher Breite, zwiſchen der Kordillere der Parime und der Kordillere von Chiquitos und der braſilia- niſchen. Bis zum Parallel der Quellen des Rio Temi (2° 45′ nördlicher Breite), auf einer Oberfläche von 4131000 qkm, 2 laufen alle Gewäſſer dem Amazonenſtrom als Hauptbehälter zu; aber weiter gegen Norden hat infolge eigentümlicher Ter- rainbildung auf einer Fläche von nicht 30000 qkm ein anderer großer Strom, der Orinoko, ſein eigenes hydrauliſches Syſtem. Die Centralebene von Südamerika umfaßt alſo zwei Strom- becken; denn ein Becken iſt die Geſamtheit aller umliegenden Bodenflächen, deren ſtärkſte Falllinien dem Thalwege, das heißt der Längenvertiefung, welche das Bett des Hauptbehälters bildet, zulaufen. Auf dem kurzen Striche zwiſchen dem 68. und 70. Grad der Länge nimmt der Orinoko die Gewäſſer auf, die vom Südabhange der Kordillere der Parime herab- kommen; aber die Nebenflüſſe, die am ſelben Abhange öſtlich vom Meridian von 68° zwiſchen dem Berge Maraguaca und den Bergen des portugieſiſchen Guyana entſpringen, gehen in den Amazonenſtrom. Alſo nur auf einer 225 km langen Strecke haben in dieſem ungeheuren Thale unter dem Aequator die Bodenflächen zunächſt am Fuße der Kordillere der Parime ihren ſtärkſten Fall in einer Richtung, die aus dem Thale hinaus zuerſt nordwärts, dann oſtwärts weiſt. In Ungarn ſehen wir einen ähnlichen, ſehr merkwürdigen Fall, wo Flüſſe, die ſüdwärts von einer Bergkette entſpringen, dem hydrau- liſchen Syſteme des Nordhanges angehören. Die Waſſerſcheide zwiſchen dem Baltiſchen und dem Schwarzen Meere liegt ſüdlich der Tatra, einem Ausläufer der Karpathen, zwiſchen Teplicz und Ganocz, auf einem nur 580 m hohen Plateau. Waag und Hernad laufen ſüdwärts der Donau zu, während der Poprad um das Tatragebirge gegen Weſt herumläuft und mit dem Dunajetz nordwärts der Weichſel zufließt. Der Poprad, der ſeiner Lage nach zu den Gewäſſern zu gehören 1 Hänge, die in entgegengeſetzter Richtung gegen den Horizont geneigt ſind. 2 Eine Oberfläche zehnmal größer als Frankreich.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/42>, abgerufen am 24.11.2024.