entzog uns lange den schönen Anblick dieser Bergwand. Sie erschien zuerst wie eine Wolkenschicht, welche die Sterne in der Nähe des Pols beim Auf- und Untergang bedeckte; allmählich schien diese Dunstmasse größer zu werden, sich zu verdichten, sich bläulich zu färben, einen gezackten, festen Um- riß anzunehmen. Was der Seefahrer beobachtet, wenn er sich einem neuen Lande nähert, das bemerkt der Reisende auch am Rande der Steppe. Der Horizont fing an sich gegen Nord zu erweitern, und das Himmelsgewölbe schien dort nicht mehr in gleicher Entfernung auf dem grasbewachsenen Boden aufzuruhen.
Einem Llanero oder Steppenbewohner ist nur wohl, wenn er, nach dem naiven Volksausdruck, "überall um sich sehen kann". Was uns als ein bewachsenes, leicht gewelltes, kaum hie und da hügeliges Land erscheint, ist für ihn ein schreck- liches, von Bergen starrendes Land. Unser Urteil über die Unebenheit des Bodens und die Beschaffenheit seiner Ober- fläche ist ein durchaus relatives. Hat man mehrere Monate in den dichten Wäldern am Orinoko zugebracht, hat man sich dort daran gewöhnt, daß man, sobald man vom Strome ab- geht, die Sterne nur in der Nähe des Zenith und wie aus einem Brunnen heraus sehen kann, so hat eine Wanderung über die Steppen etwas Angenehmes, Anziehendes. Die neuen Bilder, die man aufnimmt, machen großen Eindruck; wie dem Llanero ist einem ganz wohl, "daß man so gut um sich sehen kann". Aber dieses Behagen (wir haben es an uns selbst erfahren) ist nicht von langer Dauer. Allerdings hat der Anblick eines unabsehbaren Horizonts etwas Ernstes, Großartiges. Dieses Schauspiel erfüllt uns mit Bewunde- rung, ob wir nun auf dem Gipfel der Anden und der Hoch- alpen uns befinden, oder mitten auf dem unermeßlichen Ozean, oder auf den weiten Ebenen von Venezuela und Tu- cuman. Die Unermeßlichkeit des Raumes (die Dichter aller Zungen haben solches ausgesprochen) spiegelt sich in uns selbst wider; sie verknüpft sich mit Vorstellungen höherer Ordnung, sie weitet die Seele dessen aus, der in der Stille einsamer Betrachtung seinen Genuß findet. Allerdings aber hat der Anblick eines schrankenlosen Raumes an jedem Orte wieder einen eigenen Charakter. Das Schauspiel, dessen man auf einem freistehenden Berggipfel genießt, wechselt, je nachdem die Wolken, die auf der Niederung lagern, sich in Schichten ausbreiten, sich zu Massen ballen, oder den erstaunten
entzog uns lange den ſchönen Anblick dieſer Bergwand. Sie erſchien zuerſt wie eine Wolkenſchicht, welche die Sterne in der Nähe des Pols beim Auf- und Untergang bedeckte; allmählich ſchien dieſe Dunſtmaſſe größer zu werden, ſich zu verdichten, ſich bläulich zu färben, einen gezackten, feſten Um- riß anzunehmen. Was der Seefahrer beobachtet, wenn er ſich einem neuen Lande nähert, das bemerkt der Reiſende auch am Rande der Steppe. Der Horizont fing an ſich gegen Nord zu erweitern, und das Himmelsgewölbe ſchien dort nicht mehr in gleicher Entfernung auf dem grasbewachſenen Boden aufzuruhen.
Einem Llanero oder Steppenbewohner iſt nur wohl, wenn er, nach dem naiven Volksausdruck, „überall um ſich ſehen kann“. Was uns als ein bewachſenes, leicht gewelltes, kaum hie und da hügeliges Land erſcheint, iſt für ihn ein ſchreck- liches, von Bergen ſtarrendes Land. Unſer Urteil über die Unebenheit des Bodens und die Beſchaffenheit ſeiner Ober- fläche iſt ein durchaus relatives. Hat man mehrere Monate in den dichten Wäldern am Orinoko zugebracht, hat man ſich dort daran gewöhnt, daß man, ſobald man vom Strome ab- geht, die Sterne nur in der Nähe des Zenith und wie aus einem Brunnen heraus ſehen kann, ſo hat eine Wanderung über die Steppen etwas Angenehmes, Anziehendes. Die neuen Bilder, die man aufnimmt, machen großen Eindruck; wie dem Llanero iſt einem ganz wohl, „daß man ſo gut um ſich ſehen kann“. Aber dieſes Behagen (wir haben es an uns ſelbſt erfahren) iſt nicht von langer Dauer. Allerdings hat der Anblick eines unabſehbaren Horizonts etwas Ernſtes, Großartiges. Dieſes Schauſpiel erfüllt uns mit Bewunde- rung, ob wir nun auf dem Gipfel der Anden und der Hoch- alpen uns befinden, oder mitten auf dem unermeßlichen Ozean, oder auf den weiten Ebenen von Venezuela und Tu- cuman. Die Unermeßlichkeit des Raumes (die Dichter aller Zungen haben ſolches ausgeſprochen) ſpiegelt ſich in uns ſelbſt wider; ſie verknüpft ſich mit Vorſtellungen höherer Ordnung, ſie weitet die Seele deſſen aus, der in der Stille einſamer Betrachtung ſeinen Genuß findet. Allerdings aber hat der Anblick eines ſchrankenloſen Raumes an jedem Orte wieder einen eigenen Charakter. Das Schauſpiel, deſſen man auf einem freiſtehenden Berggipfel genießt, wechſelt, je nachdem die Wolken, die auf der Niederung lagern, ſich in Schichten ausbreiten, ſich zu Maſſen ballen, oder den erſtaunten
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entzog uns lange den ſchönen Anblick dieſer Bergwand. Sie
erſchien zuerſt wie eine Wolkenſchicht, welche die Sterne in
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allmählich ſchien dieſe Dunſtmaſſe größer zu werden, ſich zu
verdichten, ſich bläulich zu färben, einen gezackten, feſten Um-
riß anzunehmen. Was der Seefahrer beobachtet, wenn er
ſich einem neuen Lande nähert, das bemerkt der Reiſende
auch am Rande der Steppe. Der Horizont fing an ſich gegen
Nord zu erweitern, und das Himmelsgewölbe ſchien dort
nicht mehr in gleicher Entfernung auf dem grasbewachſenen
Boden aufzuruhen.
Einem Llanero oder Steppenbewohner iſt nur wohl,
wenn er, nach dem naiven Volksausdruck, „überall um ſich
ſehen kann“. Was uns als ein bewachſenes, leicht gewelltes,
kaum hie und da hügeliges Land erſcheint, iſt für ihn ein ſchreck-
liches, von Bergen ſtarrendes Land. Unſer Urteil über die
Unebenheit des Bodens und die Beſchaffenheit ſeiner Ober-
fläche iſt ein durchaus relatives. Hat man mehrere Monate
in den dichten Wäldern am Orinoko zugebracht, hat man ſich
dort daran gewöhnt, daß man, ſobald man vom Strome ab-
geht, die Sterne nur in der Nähe des Zenith und wie aus
einem Brunnen heraus ſehen kann, ſo hat eine Wanderung
über die Steppen etwas Angenehmes, Anziehendes. Die
neuen Bilder, die man aufnimmt, machen großen Eindruck;
wie dem Llanero iſt einem ganz wohl, „daß man ſo gut um
ſich ſehen kann“. Aber dieſes Behagen (wir haben es an uns
ſelbſt erfahren) iſt nicht von langer Dauer. Allerdings hat
der Anblick eines unabſehbaren Horizonts etwas Ernſtes,
Großartiges. Dieſes Schauſpiel erfüllt uns mit Bewunde-
rung, ob wir nun auf dem Gipfel der Anden und der Hoch-
alpen uns befinden, oder mitten auf dem unermeßlichen
Ozean, oder auf den weiten Ebenen von Venezuela und Tu-
cuman. Die Unermeßlichkeit des Raumes (die Dichter aller
Zungen haben ſolches ausgeſprochen) ſpiegelt ſich in uns ſelbſt
wider; ſie verknüpft ſich mit Vorſtellungen höherer Ordnung,
ſie weitet die Seele deſſen aus, der in der Stille einſamer
Betrachtung ſeinen Genuß findet. Allerdings aber hat der
Anblick eines ſchrankenloſen Raumes an jedem Orte wieder
einen eigenen Charakter. Das Schauſpiel, deſſen man auf
einem freiſtehenden Berggipfel genießt, wechſelt, je nachdem
die Wolken, die auf der Niederung lagern, ſich in Schichten
ausbreiten, ſich zu Maſſen ballen, oder den erſtaunten
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 263. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/271>, abgerufen am 16.02.2025.
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