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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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sehr gehäuft. Man sähe es lieber, wenn der Priester nicht
vom Altar weg körperliche Züchtigungen verhängte, man
wünschte, er möchte es nicht im priesterlichen Gewande mit
ansehen, wie Männer und Weiber abgestraft werden; aber
dieser Mißbrauch, oder, wenn man will, dieser Verstoß gegen
den Anstand fließt aus dem Grundsatz, auf dem das ganze
seltsame Missionsregiment beruht. Die willkürlichste bürgerliche
Gewalt ist mit den Rechten, welche dem Geistlichen der kleinen
Gemeinde zustehen, völlig verschmolzen, und obgleich die Ka-
riben so gut wie keine Kannibalen sind, und so sehr man
wünschen mag, daß sie mit Milde und Vorsicht behandelt werden,
so sieht man doch ein, daß es zuweilen etwas kräftiger Mittel
bedarf, um in einem so jungen Gemeinwesen die Ruhe auf-
recht zu erhalten.

Die Kariben sind um so schwerer an feste Wohnsitze zu
fesseln, da sie seit Jahrhunderten auf den Flüssen Handel
getrieben haben. Wir haben dieses rührige Volk, ein Volk
von Handelsleuten und von Kriegern, schon oben kennen ge-
lernt, wie es Sklavenhandel trieb und mit seinen Waren
von den Küsten von Holländisch-Guyana bis in das Becken
des Amazonenstromes zog. Die wandernden Kariben waren
die Bocharen des tropischen Amerika, und so hatte sie denn
auch das tägliche Bedürfnis, die Gegenstände ihres kleinen
Handels zu berechnen und einander Nachrichten mitzuteilen,
dazu gebracht, die Handhabung der Quippos, oder, wie
man in den Missionen sagt, der Cordoncillos con nudos, zu
verbessern und zu erweitern. Diese Quippos oder Schnüre
kommen in Kanada, in Mexiko (wo Boturini welche bei den
Tlascalteken bekam), in Peru, auf den Niederungen von
Guyana, in Centralasien, in China und in Indien vor. Als
Rosenkränze wurden sie in den Händen der abendländischen
Christen Werkzeuge der Andacht; als Suampan dienten sie
zu den Griffen der palpabeln oder Handarithmetik der
Chinesen, Tataren und Russen. 1 Die unabhängigen Kariben,

1 Die Quippos oder Schnüre der Völker im oberen Louisiana
heißen Wampum. Anghiera (Dec. III, Lib. 9) erzählt einen sehr
merkwürdigen Fall, aus dem hervorzugehen scheint, daß die umher-
ziehenden Kariben mit gebundenen Büchern, wie denen der Mexi-
kaner und den unseren, nicht ganz unbekannt waren. Der inter-
essanten Entdeckung von Bilderheften bei den Panosindianern am
Ucayale habe ich anderswo gedacht (Vues des Cordilleres, T. I,

ſehr gehäuft. Man ſähe es lieber, wenn der Prieſter nicht
vom Altar weg körperliche Züchtigungen verhängte, man
wünſchte, er möchte es nicht im prieſterlichen Gewande mit
anſehen, wie Männer und Weiber abgeſtraft werden; aber
dieſer Mißbrauch, oder, wenn man will, dieſer Verſtoß gegen
den Anſtand fließt aus dem Grundſatz, auf dem das ganze
ſeltſame Miſſionsregiment beruht. Die willkürlichſte bürgerliche
Gewalt iſt mit den Rechten, welche dem Geiſtlichen der kleinen
Gemeinde zuſtehen, völlig verſchmolzen, und obgleich die Ka-
riben ſo gut wie keine Kannibalen ſind, und ſo ſehr man
wünſchen mag, daß ſie mit Milde und Vorſicht behandelt werden,
ſo ſieht man doch ein, daß es zuweilen etwas kräftiger Mittel
bedarf, um in einem ſo jungen Gemeinweſen die Ruhe auf-
recht zu erhalten.

Die Kariben ſind um ſo ſchwerer an feſte Wohnſitze zu
feſſeln, da ſie ſeit Jahrhunderten auf den Flüſſen Handel
getrieben haben. Wir haben dieſes rührige Volk, ein Volk
von Handelsleuten und von Kriegern, ſchon oben kennen ge-
lernt, wie es Sklavenhandel trieb und mit ſeinen Waren
von den Küſten von Holländiſch-Guyana bis in das Becken
des Amazonenſtromes zog. Die wandernden Kariben waren
die Bocharen des tropiſchen Amerika, und ſo hatte ſie denn
auch das tägliche Bedürfnis, die Gegenſtände ihres kleinen
Handels zu berechnen und einander Nachrichten mitzuteilen,
dazu gebracht, die Handhabung der Quippos, oder, wie
man in den Miſſionen ſagt, der Cordoncillos con nudos, zu
verbeſſern und zu erweitern. Dieſe Quippos oder Schnüre
kommen in Kanada, in Mexiko (wo Boturini welche bei den
Tlascalteken bekam), in Peru, auf den Niederungen von
Guyana, in Centralaſien, in China und in Indien vor. Als
Roſenkränze wurden ſie in den Händen der abendländiſchen
Chriſten Werkzeuge der Andacht; als Suampan dienten ſie
zu den Griffen der palpabeln oder Handarithmetik der
Chineſen, Tataren und Ruſſen. 1 Die unabhängigen Kariben,

1 Die Quippos oder Schnüre der Völker im oberen Louiſiana
heißen Wampum. Anghiera (Dec. III, Lib. 9) erzählt einen ſehr
merkwürdigen Fall, aus dem hervorzugehen ſcheint, daß die umher-
ziehenden Kariben mit gebundenen Büchern, wie denen der Mexi-
kaner und den unſeren, nicht ganz unbekannt waren. Der inter-
eſſanten Entdeckung von Bilderheften bei den Panosindianern am
Ucayale habe ich anderswo gedacht (Vues des Cordillères, T. I,
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[246/0254] ſehr gehäuft. Man ſähe es lieber, wenn der Prieſter nicht vom Altar weg körperliche Züchtigungen verhängte, man wünſchte, er möchte es nicht im prieſterlichen Gewande mit anſehen, wie Männer und Weiber abgeſtraft werden; aber dieſer Mißbrauch, oder, wenn man will, dieſer Verſtoß gegen den Anſtand fließt aus dem Grundſatz, auf dem das ganze ſeltſame Miſſionsregiment beruht. Die willkürlichſte bürgerliche Gewalt iſt mit den Rechten, welche dem Geiſtlichen der kleinen Gemeinde zuſtehen, völlig verſchmolzen, und obgleich die Ka- riben ſo gut wie keine Kannibalen ſind, und ſo ſehr man wünſchen mag, daß ſie mit Milde und Vorſicht behandelt werden, ſo ſieht man doch ein, daß es zuweilen etwas kräftiger Mittel bedarf, um in einem ſo jungen Gemeinweſen die Ruhe auf- recht zu erhalten. Die Kariben ſind um ſo ſchwerer an feſte Wohnſitze zu feſſeln, da ſie ſeit Jahrhunderten auf den Flüſſen Handel getrieben haben. Wir haben dieſes rührige Volk, ein Volk von Handelsleuten und von Kriegern, ſchon oben kennen ge- lernt, wie es Sklavenhandel trieb und mit ſeinen Waren von den Küſten von Holländiſch-Guyana bis in das Becken des Amazonenſtromes zog. Die wandernden Kariben waren die Bocharen des tropiſchen Amerika, und ſo hatte ſie denn auch das tägliche Bedürfnis, die Gegenſtände ihres kleinen Handels zu berechnen und einander Nachrichten mitzuteilen, dazu gebracht, die Handhabung der Quippos, oder, wie man in den Miſſionen ſagt, der Cordoncillos con nudos, zu verbeſſern und zu erweitern. Dieſe Quippos oder Schnüre kommen in Kanada, in Mexiko (wo Boturini welche bei den Tlascalteken bekam), in Peru, auf den Niederungen von Guyana, in Centralaſien, in China und in Indien vor. Als Roſenkränze wurden ſie in den Händen der abendländiſchen Chriſten Werkzeuge der Andacht; als Suampan dienten ſie zu den Griffen der palpabeln oder Handarithmetik der Chineſen, Tataren und Ruſſen. 1 Die unabhängigen Kariben, 1 Die Quippos oder Schnüre der Völker im oberen Louiſiana heißen Wampum. Anghiera (Dec. III, Lib. 9) erzählt einen ſehr merkwürdigen Fall, aus dem hervorzugehen ſcheint, daß die umher- ziehenden Kariben mit gebundenen Büchern, wie denen der Mexi- kaner und den unſeren, nicht ganz unbekannt waren. Der inter- eſſanten Entdeckung von Bilderheften bei den Panosindianern am Ucayale habe ich anderswo gedacht (Vues des Cordillères, T. I,

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/254>, abgerufen am 25.11.2024.