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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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Die Ursache des periodischen Austretens des Orinoko
wirkt in gleichem Maße auf alle Flüsse, die im heißen Erd-
strich entspringen. Nach der Frühlings-Tag- und Nachtgleiche
verkündet das Aufhören der Seewinde den Eintritt der Regen-
zeit. Das Steigen der Flüsse, die man als natürliche Re-
genmesser
betrachten kann, ist der Regenmenge, die in den
verschiedenen Landstrichen fällt, proportional. Mitten in den
Wäldern am oberen Orinoko und Rio Negro schienen mir
über 2,43 bis 2,7 m Regen im Jahre zu fallen. Die Ein-
geborenen unter dem trüben Himmel von Esmeralda und am
Atabapo wissen daher auch ohne die geringste Kenntnis von
der Physik, so gut wie einst Eudoxus und Eratosthenes,1 daß
das Austreten großer Ströme allein vom tropischen Regen
herrührt. Der ordnungsmäßige Verlauf im Steigen und
Fallen des Orinoko ist folgender. Gleich nach der Frühlings-
Tag- und Nachtgleiche (das Volk nimmt den 25. März an)
bemerkt man, daß der Fluß zu steigen anfängt, anfangs nur
um 2,5 cm in 24 Stunden; im April fällt der Fluß zu-
weilen wieder; das Maximum des Hochwassers erreicht er im
Juli, bleibt voll (im selben Niveau) vom Ende Juli bis zum
25. August, und fällt dann allmählich, aber langsamer, als
er gestiegen. Im Januar und Februar ist er auf dem Mi-
nimum. In beiden Welten haben die Ströme der nördlichen
heißen Zone ihre Hochwasser ungefähr zur selben Zeit. Ganges,
Nigir und Gambia erreichen wie der Orinoko ihr Maximum
im August.2 Der Nil bleibt um zwei Monate zurück, sei es
infolge gewisser lokaler klimatischer Verhältnisse in Abessinien,
sei es wegen der Länge seines Laufes vom Lande Berber oder
vom 17. Breitengrade bis zur Teilung am Delta. Die ara-
bischen Geographen behaupten, in Sennaar und Abessinien
steige der Nil schon im April (ungefähr wie der Orinoko);
in Kairo wird aber das Steigen erst gegen das Sommer-
solstitium merklich und der höchste Wasserstand tritt Ende
September ein.3 Auf diesem erhält sich der Fluß bis Mitte
Oktober; das Minimum fällt im April und Mai, also in
eine Zeit, wo in Guyana die Flüsse schon wieder zu steigen
anfangen. Aus dieser raschen Uebersicht ergibt sich, daß wenn
auch die Form der natürlichen Kanäle und lokale klimatische

1 Strabo Lib. XVII. Diodorus Siculus Lib. I, c. 5.
2 Etwa 40 bis 50 Tage nach dem Sommersolstitium.
3 Etwa 80 bis 90 Tage nach dem Sommersolstitium.

Die Urſache des periodiſchen Austretens des Orinoko
wirkt in gleichem Maße auf alle Flüſſe, die im heißen Erd-
ſtrich entſpringen. Nach der Frühlings-Tag- und Nachtgleiche
verkündet das Aufhören der Seewinde den Eintritt der Regen-
zeit. Das Steigen der Flüſſe, die man als natürliche Re-
genmeſſer
betrachten kann, iſt der Regenmenge, die in den
verſchiedenen Landſtrichen fällt, proportional. Mitten in den
Wäldern am oberen Orinoko und Rio Negro ſchienen mir
über 2,43 bis 2,7 m Regen im Jahre zu fallen. Die Ein-
geborenen unter dem trüben Himmel von Esmeralda und am
Atabapo wiſſen daher auch ohne die geringſte Kenntnis von
der Phyſik, ſo gut wie einſt Eudoxus und Eratoſthenes,1 daß
das Austreten großer Ströme allein vom tropiſchen Regen
herrührt. Der ordnungsmäßige Verlauf im Steigen und
Fallen des Orinoko iſt folgender. Gleich nach der Frühlings-
Tag- und Nachtgleiche (das Volk nimmt den 25. März an)
bemerkt man, daß der Fluß zu ſteigen anfängt, anfangs nur
um 2,5 cm in 24 Stunden; im April fällt der Fluß zu-
weilen wieder; das Maximum des Hochwaſſers erreicht er im
Juli, bleibt voll (im ſelben Niveau) vom Ende Juli bis zum
25. Auguſt, und fällt dann allmählich, aber langſamer, als
er geſtiegen. Im Januar und Februar iſt er auf dem Mi-
nimum. In beiden Welten haben die Ströme der nördlichen
heißen Zone ihre Hochwaſſer ungefähr zur ſelben Zeit. Ganges,
Nigir und Gambia erreichen wie der Orinoko ihr Maximum
im Auguſt.2 Der Nil bleibt um zwei Monate zurück, ſei es
infolge gewiſſer lokaler klimatiſcher Verhältniſſe in Abeſſinien,
ſei es wegen der Länge ſeines Laufes vom Lande Berber oder
vom 17. Breitengrade bis zur Teilung am Delta. Die ara-
biſchen Geographen behaupten, in Sennaar und Abeſſinien
ſteige der Nil ſchon im April (ungefähr wie der Orinoko);
in Kairo wird aber das Steigen erſt gegen das Sommer-
ſolſtitium merklich und der höchſte Waſſerſtand tritt Ende
September ein.3 Auf dieſem erhält ſich der Fluß bis Mitte
Oktober; das Minimum fällt im April und Mai, alſo in
eine Zeit, wo in Guyana die Flüſſe ſchon wieder zu ſteigen
anfangen. Aus dieſer raſchen Ueberſicht ergibt ſich, daß wenn
auch die Form der natürlichen Kanäle und lokale klimatiſche

1 Strabo Lib. XVII. Diodorus Siculus Lib. I, c. 5.
2 Etwa 40 bis 50 Tage nach dem Sommerſolſtitium.
3 Etwa 80 bis 90 Tage nach dem Sommerſolſtitium.
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[173/0181] Die Urſache des periodiſchen Austretens des Orinoko wirkt in gleichem Maße auf alle Flüſſe, die im heißen Erd- ſtrich entſpringen. Nach der Frühlings-Tag- und Nachtgleiche verkündet das Aufhören der Seewinde den Eintritt der Regen- zeit. Das Steigen der Flüſſe, die man als natürliche Re- genmeſſer betrachten kann, iſt der Regenmenge, die in den verſchiedenen Landſtrichen fällt, proportional. Mitten in den Wäldern am oberen Orinoko und Rio Negro ſchienen mir über 2,43 bis 2,7 m Regen im Jahre zu fallen. Die Ein- geborenen unter dem trüben Himmel von Esmeralda und am Atabapo wiſſen daher auch ohne die geringſte Kenntnis von der Phyſik, ſo gut wie einſt Eudoxus und Eratoſthenes, 1 daß das Austreten großer Ströme allein vom tropiſchen Regen herrührt. Der ordnungsmäßige Verlauf im Steigen und Fallen des Orinoko iſt folgender. Gleich nach der Frühlings- Tag- und Nachtgleiche (das Volk nimmt den 25. März an) bemerkt man, daß der Fluß zu ſteigen anfängt, anfangs nur um 2,5 cm in 24 Stunden; im April fällt der Fluß zu- weilen wieder; das Maximum des Hochwaſſers erreicht er im Juli, bleibt voll (im ſelben Niveau) vom Ende Juli bis zum 25. Auguſt, und fällt dann allmählich, aber langſamer, als er geſtiegen. Im Januar und Februar iſt er auf dem Mi- nimum. In beiden Welten haben die Ströme der nördlichen heißen Zone ihre Hochwaſſer ungefähr zur ſelben Zeit. Ganges, Nigir und Gambia erreichen wie der Orinoko ihr Maximum im Auguſt. 2 Der Nil bleibt um zwei Monate zurück, ſei es infolge gewiſſer lokaler klimatiſcher Verhältniſſe in Abeſſinien, ſei es wegen der Länge ſeines Laufes vom Lande Berber oder vom 17. Breitengrade bis zur Teilung am Delta. Die ara- biſchen Geographen behaupten, in Sennaar und Abeſſinien ſteige der Nil ſchon im April (ungefähr wie der Orinoko); in Kairo wird aber das Steigen erſt gegen das Sommer- ſolſtitium merklich und der höchſte Waſſerſtand tritt Ende September ein. 3 Auf dieſem erhält ſich der Fluß bis Mitte Oktober; das Minimum fällt im April und Mai, alſo in eine Zeit, wo in Guyana die Flüſſe ſchon wieder zu ſteigen anfangen. Aus dieſer raſchen Ueberſicht ergibt ſich, daß wenn auch die Form der natürlichen Kanäle und lokale klimatiſche 1 Strabo Lib. XVII. Diodorus Siculus Lib. I, c. 5. 2 Etwa 40 bis 50 Tage nach dem Sommerſolſtitium. 3 Etwa 80 bis 90 Tage nach dem Sommerſolſtitium.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/181>, abgerufen am 24.11.2024.