der menschliche Körper erlitten, weniger geeignet, weil es dabei an einem Nervenreiz fehlt. Das Opium, das nicht nährt, wird in Asien mit Erfolg bei großer Hungersnot gebraucht: es wirkt als tonisches Mittel. Ist aber der Stoff, der den Magen füllt, weder als ein Nahrungsmittel, das heißt, als assimilierbar, noch als ein tonischer Nervenreiz zu betrachten, so rührt die Beschwichtigung wahrscheinlich von der reichlichen Absonderung des Magensaftes her. Wir berühren hier ein Gebiet der Physiologie, auf dem noch manches dunkel ist. Der Hunger wird beschwichtigt, das unangenehme Gefühl der Leere hört auf, sobald der Magen angefüllt ist. Man sagt, der Magen müsse Ballast haben; in allen Sprachen gibt es figürliche Ausdrücke für die Vorstellung, daß eine mechanische Ausdehnung des Magens ein angenehmes Gefühl verursacht. Zum Teil noch in ganz neuen physiologischen Werken ist von der schmerzhaften Zusammenziehung des Magens im Hunger, von der Reibung der Magenwände aneinander, von der Wir- kung des sauren Magensaftes auf das Gewebe der Ver- dauungsorgane die Rede. Bichats Beobachtungen, besonders aber Magendies interessante Versuche widersprechen diesen veralteten Vorstellungen. Nach 24-, 48-, sogar 60stündiger Entziehung aller Nahrungsmittel beobachtet man noch keine Zusammenziehung des Magens; erst am vierten und fünften Tage scheinen die Dimensionen des Organes etwas abzunehmen. Je länger die Nahrungsentziehung dauert, desto mehr ver- mindert sich der Magensaft. Derselbe häuft sich keineswegs an, er wird vielmehr wahrscheinlich wie ein Nahrungsmittel verdaut. Läßt man Katzen oder Hunde einen unverdaulichen Körper, z. B. einen Kiesel schlucken, so wird in die Magen- höhle in Menge eine schleimige, saure Flüssigkeit ausgesondert, die nach ihrer Zusammensetzung dem menschlichen Magensafte nahe steht. Nach diesen Thatsachen scheint es mir wahrschein- lich, daß, wenn der Mangel an Nahrungsstoff die Otomaken und die Neukaledonier antreibt, einen Teil des Jahres hin- durch Thon und Speckstein zu verschlingen, diese Erden im Verdauungsapparat dieser Menschen eine vermehrte Absonde- rung der eigentümlichen Säfte des Magens und der Bauch- speicheldrüse zur Folge haben. Meine Beobachtungen am Orinoko wurden in neuester Zeit durch direkte Versuche zweier ausgezeichneter junger Physiologen, Hippolyt Cloquet und Breschet, bestätigt. Sie ließen sich hungrig werden und aßen dann fünf Unzen eines grünlich silberfarbigen, blätterigen,
A. v. Humboldt, Reise. IV. 9
der menſchliche Körper erlitten, weniger geeignet, weil es dabei an einem Nervenreiz fehlt. Das Opium, das nicht nährt, wird in Aſien mit Erfolg bei großer Hungersnot gebraucht: es wirkt als toniſches Mittel. Iſt aber der Stoff, der den Magen füllt, weder als ein Nahrungsmittel, das heißt, als aſſimilierbar, noch als ein toniſcher Nervenreiz zu betrachten, ſo rührt die Beſchwichtigung wahrſcheinlich von der reichlichen Abſonderung des Magenſaftes her. Wir berühren hier ein Gebiet der Phyſiologie, auf dem noch manches dunkel iſt. Der Hunger wird beſchwichtigt, das unangenehme Gefühl der Leere hört auf, ſobald der Magen angefüllt iſt. Man ſagt, der Magen müſſe Ballaſt haben; in allen Sprachen gibt es figürliche Ausdrücke für die Vorſtellung, daß eine mechaniſche Ausdehnung des Magens ein angenehmes Gefühl verurſacht. Zum Teil noch in ganz neuen phyſiologiſchen Werken iſt von der ſchmerzhaften Zuſammenziehung des Magens im Hunger, von der Reibung der Magenwände aneinander, von der Wir- kung des ſauren Magenſaftes auf das Gewebe der Ver- dauungsorgane die Rede. Bichats Beobachtungen, beſonders aber Magendies intereſſante Verſuche widerſprechen dieſen veralteten Vorſtellungen. Nach 24-, 48-, ſogar 60ſtündiger Entziehung aller Nahrungsmittel beobachtet man noch keine Zuſammenziehung des Magens; erſt am vierten und fünften Tage ſcheinen die Dimenſionen des Organes etwas abzunehmen. Je länger die Nahrungsentziehung dauert, deſto mehr ver- mindert ſich der Magenſaft. Derſelbe häuft ſich keineswegs an, er wird vielmehr wahrſcheinlich wie ein Nahrungsmittel verdaut. Läßt man Katzen oder Hunde einen unverdaulichen Körper, z. B. einen Kieſel ſchlucken, ſo wird in die Magen- höhle in Menge eine ſchleimige, ſaure Flüſſigkeit ausgeſondert, die nach ihrer Zuſammenſetzung dem menſchlichen Magenſafte nahe ſteht. Nach dieſen Thatſachen ſcheint es mir wahrſchein- lich, daß, wenn der Mangel an Nahrungsſtoff die Otomaken und die Neukaledonier antreibt, einen Teil des Jahres hin- durch Thon und Speckſtein zu verſchlingen, dieſe Erden im Verdauungsapparat dieſer Menſchen eine vermehrte Abſonde- rung der eigentümlichen Säfte des Magens und der Bauch- ſpeicheldrüſe zur Folge haben. Meine Beobachtungen am Orinoko wurden in neueſter Zeit durch direkte Verſuche zweier ausgezeichneter junger Phyſiologen, Hippolyt Cloquet und Breſchet, beſtätigt. Sie ließen ſich hungrig werden und aßen dann fünf Unzen eines grünlich ſilberfarbigen, blätterigen,
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 9
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0137"n="129"/>
der menſchliche Körper erlitten, weniger geeignet, weil es<lb/>
dabei an einem Nervenreiz fehlt. Das Opium, das nicht nährt,<lb/>
wird in Aſien mit Erfolg bei großer Hungersnot gebraucht:<lb/>
es wirkt als toniſches Mittel. Iſt aber der Stoff, der den<lb/>
Magen füllt, weder als ein Nahrungsmittel, das heißt, als<lb/>
aſſimilierbar, noch als ein toniſcher Nervenreiz zu betrachten,<lb/>ſo rührt die Beſchwichtigung wahrſcheinlich von der reichlichen<lb/>
Abſonderung des Magenſaftes her. Wir berühren hier ein<lb/>
Gebiet der Phyſiologie, auf dem noch manches dunkel iſt.<lb/>
Der Hunger wird beſchwichtigt, das unangenehme Gefühl der<lb/>
Leere hört auf, ſobald der Magen angefüllt iſt. Man ſagt,<lb/>
der Magen müſſe <hirendition="#g">Ballaſt</hi> haben; in allen Sprachen gibt es<lb/>
figürliche Ausdrücke für die Vorſtellung, daß eine mechaniſche<lb/>
Ausdehnung des Magens ein angenehmes Gefühl verurſacht.<lb/>
Zum Teil noch in ganz neuen phyſiologiſchen Werken iſt von<lb/>
der ſchmerzhaften Zuſammenziehung des Magens im Hunger,<lb/>
von der Reibung der Magenwände aneinander, von der Wir-<lb/>
kung des ſauren Magenſaftes auf das Gewebe der Ver-<lb/>
dauungsorgane die Rede. Bichats Beobachtungen, beſonders<lb/>
aber Magendies intereſſante Verſuche widerſprechen dieſen<lb/>
veralteten Vorſtellungen. Nach 24-, 48-, ſogar 60ſtündiger<lb/>
Entziehung aller Nahrungsmittel beobachtet man noch keine<lb/>
Zuſammenziehung des Magens; erſt am vierten und fünften<lb/>
Tage ſcheinen die Dimenſionen des Organes etwas abzunehmen.<lb/>
Je länger die Nahrungsentziehung dauert, deſto mehr ver-<lb/>
mindert ſich der Magenſaft. Derſelbe häuft ſich keineswegs<lb/>
an, er wird vielmehr wahrſcheinlich wie ein Nahrungsmittel<lb/>
verdaut. Läßt man Katzen oder Hunde einen unverdaulichen<lb/>
Körper, z. B. einen Kieſel ſchlucken, ſo wird in die Magen-<lb/>
höhle in Menge eine ſchleimige, ſaure Flüſſigkeit ausgeſondert,<lb/>
die nach ihrer Zuſammenſetzung dem menſchlichen Magenſafte<lb/>
nahe ſteht. Nach dieſen Thatſachen ſcheint es mir wahrſchein-<lb/>
lich, daß, wenn der Mangel an Nahrungsſtoff die Otomaken<lb/>
und die Neukaledonier antreibt, einen Teil des Jahres hin-<lb/>
durch Thon und Speckſtein zu verſchlingen, dieſe Erden im<lb/>
Verdauungsapparat dieſer Menſchen eine vermehrte Abſonde-<lb/>
rung der eigentümlichen Säfte des Magens und der Bauch-<lb/>ſpeicheldrüſe zur Folge haben. Meine Beobachtungen am<lb/>
Orinoko wurden in neueſter Zeit durch direkte Verſuche zweier<lb/>
ausgezeichneter junger Phyſiologen, Hippolyt Cloquet und<lb/>
Breſchet, beſtätigt. Sie ließen ſich hungrig werden und aßen<lb/>
dann fünf Unzen eines grünlich ſilberfarbigen, blätterigen,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">A. v. <hirendition="#g">Humboldt</hi>, Reiſe. <hirendition="#aq">IV.</hi> 9</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[129/0137]
der menſchliche Körper erlitten, weniger geeignet, weil es
dabei an einem Nervenreiz fehlt. Das Opium, das nicht nährt,
wird in Aſien mit Erfolg bei großer Hungersnot gebraucht:
es wirkt als toniſches Mittel. Iſt aber der Stoff, der den
Magen füllt, weder als ein Nahrungsmittel, das heißt, als
aſſimilierbar, noch als ein toniſcher Nervenreiz zu betrachten,
ſo rührt die Beſchwichtigung wahrſcheinlich von der reichlichen
Abſonderung des Magenſaftes her. Wir berühren hier ein
Gebiet der Phyſiologie, auf dem noch manches dunkel iſt.
Der Hunger wird beſchwichtigt, das unangenehme Gefühl der
Leere hört auf, ſobald der Magen angefüllt iſt. Man ſagt,
der Magen müſſe Ballaſt haben; in allen Sprachen gibt es
figürliche Ausdrücke für die Vorſtellung, daß eine mechaniſche
Ausdehnung des Magens ein angenehmes Gefühl verurſacht.
Zum Teil noch in ganz neuen phyſiologiſchen Werken iſt von
der ſchmerzhaften Zuſammenziehung des Magens im Hunger,
von der Reibung der Magenwände aneinander, von der Wir-
kung des ſauren Magenſaftes auf das Gewebe der Ver-
dauungsorgane die Rede. Bichats Beobachtungen, beſonders
aber Magendies intereſſante Verſuche widerſprechen dieſen
veralteten Vorſtellungen. Nach 24-, 48-, ſogar 60ſtündiger
Entziehung aller Nahrungsmittel beobachtet man noch keine
Zuſammenziehung des Magens; erſt am vierten und fünften
Tage ſcheinen die Dimenſionen des Organes etwas abzunehmen.
Je länger die Nahrungsentziehung dauert, deſto mehr ver-
mindert ſich der Magenſaft. Derſelbe häuft ſich keineswegs
an, er wird vielmehr wahrſcheinlich wie ein Nahrungsmittel
verdaut. Läßt man Katzen oder Hunde einen unverdaulichen
Körper, z. B. einen Kieſel ſchlucken, ſo wird in die Magen-
höhle in Menge eine ſchleimige, ſaure Flüſſigkeit ausgeſondert,
die nach ihrer Zuſammenſetzung dem menſchlichen Magenſafte
nahe ſteht. Nach dieſen Thatſachen ſcheint es mir wahrſchein-
lich, daß, wenn der Mangel an Nahrungsſtoff die Otomaken
und die Neukaledonier antreibt, einen Teil des Jahres hin-
durch Thon und Speckſtein zu verſchlingen, dieſe Erden im
Verdauungsapparat dieſer Menſchen eine vermehrte Abſonde-
rung der eigentümlichen Säfte des Magens und der Bauch-
ſpeicheldrüſe zur Folge haben. Meine Beobachtungen am
Orinoko wurden in neueſter Zeit durch direkte Verſuche zweier
ausgezeichneter junger Phyſiologen, Hippolyt Cloquet und
Breſchet, beſtätigt. Sie ließen ſich hungrig werden und aßen
dann fünf Unzen eines grünlich ſilberfarbigen, blätterigen,
A. v. Humboldt, Reiſe. IV. 9
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/137>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.