von ungeheurem Umfang) der alten und der heutigen noma- dischen Völker in Asien erinnern. Auf den östlichen Ebenen Südamerikas ist durch die Uebermacht des Pflanzenwuchses, des heißen Klimas und die allzu große Freigebigkeit der Natur der Fortschritt der menschlichen Kultur in noch engeren Schran- ken gehalten worden. Zwischen Orinoko und Amazonenstrom habe ich von keinem Erdwall, von keinem Ueberbleibsel eines Dammes, von keinem Grabhügel sprechen hören; nur auf den Felsen, und zwar auf einer weiten Landstrecke, sieht man, in unbekannter Zeit von Menschenhand eingegraben, rohe Um- risse, die sich an religiöse Ueberlieferungen knüpfen. Wenn einmal die Bewohner des doppelten Amerikas mit weniger Geringschätzung auf den Boden sehen, der sie ernährt, so wer- den sich die Spuren früherer Jahrhunderte unter unseren Augen von Tag zu Tag mehren. Ein schwacher Schimmer wird sich dann über die Geschichte dieser barbarischen Völker ver- breiten, über die Felswände, die uns verkünden, daß diese jetzt so öden Länder einst von thätigeren, geisteskräftigeren Geschlechtern bewohnt waren.
Ich glaubte, bevor ich vom wildesten Striche des oberen Orinoko scheide, Erscheinungen besprechen zu müssen, die nur dann von Bedeutung werden, wenn man sie aus einem Ge- sichtspunkte betrachtet. Was ich von unserer Fahrt von Es- meralda bis zum Einflusse des Atabapo berichten könnte, wäre nur trockene Aufzählung von Flüssen und unbewohnten Orten. Vom 24. bis 27. Mai schliefen wir nur zweimal am Lande, und zwar das erstemal am Einfluß des Rio Jao und dann oberhalb der Mission Santa Barbara auf der Insel Minisi. Da der Orinoko hier frei von Klippen ist, führte uns der indianische Steuermann die Nacht durch fort, indem er die Piroge der Strömung überließ. Dieses Stück meiner Karte zwischen dem Jao und dem Ventuari ist daher auch hinsicht- lich der Krümmungen des Flusses nicht sehr genau. Rechnet man den Aufenthalt am Ufer, um den Reis und die Ba- nanen zuzubereiten, ab, so brauchten wir von Esmeralda nach Santa Barbara nur 35 Stunden. Diese Mission liegt nach dem Chronometer unter 70° 3' der Länge; wir hatten also gegen 7,5 km in der Stunde zurückgelegt, eine Geschwindig- keit (2,05 m in der Sekunde), die zugleich auf Rechnung der Strömung und der Bewegung der Ruder kommt. Die Indianer behaupten, die Krokodile gehen im Orinoko nicht über den Einfluß des Rio Jao hinauf, und die Seekühe
von ungeheurem Umfang) der alten und der heutigen noma- diſchen Völker in Aſien erinnern. Auf den öſtlichen Ebenen Südamerikas iſt durch die Uebermacht des Pflanzenwuchſes, des heißen Klimas und die allzu große Freigebigkeit der Natur der Fortſchritt der menſchlichen Kultur in noch engeren Schran- ken gehalten worden. Zwiſchen Orinoko und Amazonenſtrom habe ich von keinem Erdwall, von keinem Ueberbleibſel eines Dammes, von keinem Grabhügel ſprechen hören; nur auf den Felſen, und zwar auf einer weiten Landſtrecke, ſieht man, in unbekannter Zeit von Menſchenhand eingegraben, rohe Um- riſſe, die ſich an religiöſe Ueberlieferungen knüpfen. Wenn einmal die Bewohner des doppelten Amerikas mit weniger Geringſchätzung auf den Boden ſehen, der ſie ernährt, ſo wer- den ſich die Spuren früherer Jahrhunderte unter unſeren Augen von Tag zu Tag mehren. Ein ſchwacher Schimmer wird ſich dann über die Geſchichte dieſer barbariſchen Völker ver- breiten, über die Felswände, die uns verkünden, daß dieſe jetzt ſo öden Länder einſt von thätigeren, geiſteskräftigeren Geſchlechtern bewohnt waren.
Ich glaubte, bevor ich vom wildeſten Striche des oberen Orinoko ſcheide, Erſcheinungen beſprechen zu müſſen, die nur dann von Bedeutung werden, wenn man ſie aus einem Ge- ſichtspunkte betrachtet. Was ich von unſerer Fahrt von Es- meralda bis zum Einfluſſe des Atabapo berichten könnte, wäre nur trockene Aufzählung von Flüſſen und unbewohnten Orten. Vom 24. bis 27. Mai ſchliefen wir nur zweimal am Lande, und zwar das erſtemal am Einfluß des Rio Jao und dann oberhalb der Miſſion Santa Barbara auf der Inſel Miniſi. Da der Orinoko hier frei von Klippen iſt, führte uns der indianiſche Steuermann die Nacht durch fort, indem er die Piroge der Strömung überließ. Dieſes Stück meiner Karte zwiſchen dem Jao und dem Ventuari iſt daher auch hinſicht- lich der Krümmungen des Fluſſes nicht ſehr genau. Rechnet man den Aufenthalt am Ufer, um den Reis und die Ba- nanen zuzubereiten, ab, ſo brauchten wir von Esmeralda nach Santa Barbara nur 35 Stunden. Dieſe Miſſion liegt nach dem Chronometer unter 70° 3′ der Länge; wir hatten alſo gegen 7,5 km in der Stunde zurückgelegt, eine Geſchwindig- keit (2,05 m in der Sekunde), die zugleich auf Rechnung der Strömung und der Bewegung der Ruder kommt. Die Indianer behaupten, die Krokodile gehen im Orinoko nicht über den Einfluß des Rio Jao hinauf, und die Seekühe
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[103/0111]
von ungeheurem Umfang) der alten und der heutigen noma-
diſchen Völker in Aſien erinnern. Auf den öſtlichen Ebenen
Südamerikas iſt durch die Uebermacht des Pflanzenwuchſes,
des heißen Klimas und die allzu große Freigebigkeit der Natur
der Fortſchritt der menſchlichen Kultur in noch engeren Schran-
ken gehalten worden. Zwiſchen Orinoko und Amazonenſtrom
habe ich von keinem Erdwall, von keinem Ueberbleibſel eines
Dammes, von keinem Grabhügel ſprechen hören; nur auf den
Felſen, und zwar auf einer weiten Landſtrecke, ſieht man, in
unbekannter Zeit von Menſchenhand eingegraben, rohe Um-
riſſe, die ſich an religiöſe Ueberlieferungen knüpfen. Wenn
einmal die Bewohner des doppelten Amerikas mit weniger
Geringſchätzung auf den Boden ſehen, der ſie ernährt, ſo wer-
den ſich die Spuren früherer Jahrhunderte unter unſeren Augen
von Tag zu Tag mehren. Ein ſchwacher Schimmer wird
ſich dann über die Geſchichte dieſer barbariſchen Völker ver-
breiten, über die Felswände, die uns verkünden, daß dieſe
jetzt ſo öden Länder einſt von thätigeren, geiſteskräftigeren
Geſchlechtern bewohnt waren.
Ich glaubte, bevor ich vom wildeſten Striche des oberen
Orinoko ſcheide, Erſcheinungen beſprechen zu müſſen, die nur
dann von Bedeutung werden, wenn man ſie aus einem Ge-
ſichtspunkte betrachtet. Was ich von unſerer Fahrt von Es-
meralda bis zum Einfluſſe des Atabapo berichten könnte, wäre
nur trockene Aufzählung von Flüſſen und unbewohnten Orten.
Vom 24. bis 27. Mai ſchliefen wir nur zweimal am Lande,
und zwar das erſtemal am Einfluß des Rio Jao und dann
oberhalb der Miſſion Santa Barbara auf der Inſel Miniſi.
Da der Orinoko hier frei von Klippen iſt, führte uns der
indianiſche Steuermann die Nacht durch fort, indem er die
Piroge der Strömung überließ. Dieſes Stück meiner Karte
zwiſchen dem Jao und dem Ventuari iſt daher auch hinſicht-
lich der Krümmungen des Fluſſes nicht ſehr genau. Rechnet
man den Aufenthalt am Ufer, um den Reis und die Ba-
nanen zuzubereiten, ab, ſo brauchten wir von Esmeralda nach
Santa Barbara nur 35 Stunden. Dieſe Miſſion liegt nach
dem Chronometer unter 70° 3′ der Länge; wir hatten alſo
gegen 7,5 km in der Stunde zurückgelegt, eine Geſchwindig-
keit (2,05 m in der Sekunde), die zugleich auf Rechnung
der Strömung und der Bewegung der Ruder kommt. Die
Indianer behaupten, die Krokodile gehen im Orinoko nicht
über den Einfluß des Rio Jao hinauf, und die Seekühe
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 4. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial04_1859/111>, abgerufen am 16.02.2025.
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