Vom Einfluß des Rio Paruasi an wird der Orinoko wieder schmäler. Er ist voll Inseln und Granitklippen, und so entstehen hier die Stromschnellen oder kleinen Fälle (los remolinos), die beim ersten Anblick wegen der vielen Wirbel dem Reisenden bange machen können, aber in keiner Jahreszeit den Schiffen gefährlich sind. Man muß wenig zu Schiffe gewesen sein, wenn man wie Pater Gili, der sonst so genau und verständig ist, sagen kann: "e terrible pe' molti scogli il tratto del fiume tral Castello e Caricciana." Eine Reihe von Klippen, die fast über den ganzen Fluß läuft, heißt Raudal de Marimara. Wir legten sie ohne Schwierig- keit zurück, und zwar in einem schmalen Kanal, in dem das Wasser ungestüm, wie siedend, unter der Piedra de Mari- mara heraufschießt, einer kompakten Granitmasse, 26 m hoch und 100 m im Umfang, ohne Spalten und ohne Spur von Schichtung. Der Fluß tritt weit ins Land hinein und bildet in den Felsen weite Buchten. Eine dieser Buchten zwischen zwei kahlen Vorgebirgen heißt der Hafen von Carichana. Der Ort hat ein wildes Aussehen; das Felsenufer wirft seine mächtigen Schatten über den Wasserspiegel und das Wasser erscheint schwarz, wenn sich diese Granitmassen darin spiegeln, die, wie schon bemerkt, wegen der eigenen Färbung ihrer Oberfläche, bald wie Steinkohlen, bald wie Bleierz aussehen. Wir übernachteten im kleinen Dorfe Carichana, wo wir auf die Empfehlung des guten Missionärs Fray Jose Antonio de Torre im Pfarrhause oder Convento Aufnahme fanden. Wir hatten seit fast 14 Tagen unter keinem Dache geschlafen.
Am 11. April. Um die für die Gesundheit oft so nach- teiligen Folgen der Ueberschwemmungen zu vermeiden, wurde die Mission Carichana 3,3 km vom Flusse angelegt. Die Indianer sind vom Stamme der Salivas. Die ursprüng- lichen Wohnsitze desselben scheinen auf dem westlichen Ufer des Orinoko zwischen dem Rio Vichada und dem Guaviare, sowie zwischen dem Meta und dem Rio Paute gewesen zu sein. Gegenwärtig findet man Salivas nicht nur in Carichana, sondern auch in den Missionen der Provinz Casanare, in Cabapuna, Guanapalo, Cabiuna und Macuco. Letzteres im Jahre 1730 vom Jesuiten Fray Manuel Roman gegründete Dorf hat 1300 Einwohner. Die Salivas sind ein geselliges, sanftes, fast schüchternes Volk, und leichter, ich sage nicht zu civilisieren, aber in der Zucht zu halten als andere am Ori- noko. Um sich der Herrschaft der Kariben zu entziehen, ließen
Vom Einfluß des Rio Paruaſi an wird der Orinoko wieder ſchmäler. Er iſt voll Inſeln und Granitklippen, und ſo entſtehen hier die Stromſchnellen oder kleinen Fälle (los remolinos), die beim erſten Anblick wegen der vielen Wirbel dem Reiſenden bange machen können, aber in keiner Jahreszeit den Schiffen gefährlich ſind. Man muß wenig zu Schiffe geweſen ſein, wenn man wie Pater Gili, der ſonſt ſo genau und verſtändig iſt, ſagen kann: „è terrible pe’ molti scogli il tratto del fiume tral Castello e Caricciana.“ Eine Reihe von Klippen, die faſt über den ganzen Fluß läuft, heißt Raudal de Marimara. Wir legten ſie ohne Schwierig- keit zurück, und zwar in einem ſchmalen Kanal, in dem das Waſſer ungeſtüm, wie ſiedend, unter der Piedra de Mari- mara heraufſchießt, einer kompakten Granitmaſſe, 26 m hoch und 100 m im Umfang, ohne Spalten und ohne Spur von Schichtung. Der Fluß tritt weit ins Land hinein und bildet in den Felſen weite Buchten. Eine dieſer Buchten zwiſchen zwei kahlen Vorgebirgen heißt der Hafen von Carichana. Der Ort hat ein wildes Ausſehen; das Felſenufer wirft ſeine mächtigen Schatten über den Waſſerſpiegel und das Waſſer erſcheint ſchwarz, wenn ſich dieſe Granitmaſſen darin ſpiegeln, die, wie ſchon bemerkt, wegen der eigenen Färbung ihrer Oberfläche, bald wie Steinkohlen, bald wie Bleierz ausſehen. Wir übernachteten im kleinen Dorfe Carichana, wo wir auf die Empfehlung des guten Miſſionärs Fray Joſe Antonio de Torre im Pfarrhauſe oder Convento Aufnahme fanden. Wir hatten ſeit faſt 14 Tagen unter keinem Dache geſchlafen.
Am 11. April. Um die für die Geſundheit oft ſo nach- teiligen Folgen der Ueberſchwemmungen zu vermeiden, wurde die Miſſion Carichana 3,3 km vom Fluſſe angelegt. Die Indianer ſind vom Stamme der Salivas. Die urſprüng- lichen Wohnſitze desſelben ſcheinen auf dem weſtlichen Ufer des Orinoko zwiſchen dem Rio Vichada und dem Guaviare, ſowie zwiſchen dem Meta und dem Rio Paute geweſen zu ſein. Gegenwärtig findet man Salivas nicht nur in Carichana, ſondern auch in den Miſſionen der Provinz Caſanare, in Cabapuna, Guanapalo, Cabiuna und Macuco. Letzteres im Jahre 1730 vom Jeſuiten Fray Manuel Roman gegründete Dorf hat 1300 Einwohner. Die Salivas ſind ein geſelliges, ſanftes, faſt ſchüchternes Volk, und leichter, ich ſage nicht zu civiliſieren, aber in der Zucht zu halten als andere am Ori- noko. Um ſich der Herrſchaft der Kariben zu entziehen, ließen
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Vom Einfluß des Rio Paruaſi an wird der Orinoko
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ſo entſtehen hier die Stromſchnellen oder kleinen Fälle
(los remolinos), die beim erſten Anblick wegen der vielen
Wirbel dem Reiſenden bange machen können, aber in keiner
Jahreszeit den Schiffen gefährlich ſind. Man muß wenig zu
Schiffe geweſen ſein, wenn man wie Pater Gili, der ſonſt ſo
genau und verſtändig iſt, ſagen kann: „è terrible pe’ molti
scogli il tratto del fiume tral Castello e Caricciana.“ Eine
Reihe von Klippen, die faſt über den ganzen Fluß läuft,
heißt Raudal de Marimara. Wir legten ſie ohne Schwierig-
keit zurück, und zwar in einem ſchmalen Kanal, in dem das
Waſſer ungeſtüm, wie ſiedend, unter der Piedra de Mari-
mara heraufſchießt, einer kompakten Granitmaſſe, 26 m hoch
und 100 m im Umfang, ohne Spalten und ohne Spur von
Schichtung. Der Fluß tritt weit ins Land hinein und bildet
in den Felſen weite Buchten. Eine dieſer Buchten zwiſchen
zwei kahlen Vorgebirgen heißt der Hafen von Carichana.
Der Ort hat ein wildes Ausſehen; das Felſenufer wirft ſeine
mächtigen Schatten über den Waſſerſpiegel und das Waſſer
erſcheint ſchwarz, wenn ſich dieſe Granitmaſſen darin ſpiegeln,
die, wie ſchon bemerkt, wegen der eigenen Färbung ihrer
Oberfläche, bald wie Steinkohlen, bald wie Bleierz ausſehen.
Wir übernachteten im kleinen Dorfe Carichana, wo wir auf
die Empfehlung des guten Miſſionärs Fray Joſe Antonio
de Torre im Pfarrhauſe oder Convento Aufnahme fanden.
Wir hatten ſeit faſt 14 Tagen unter keinem Dache geſchlafen.
Am 11. April. Um die für die Geſundheit oft ſo nach-
teiligen Folgen der Ueberſchwemmungen zu vermeiden, wurde
die Miſſion Carichana 3,3 km vom Fluſſe angelegt. Die
Indianer ſind vom Stamme der Salivas. Die urſprüng-
lichen Wohnſitze desſelben ſcheinen auf dem weſtlichen Ufer
des Orinoko zwiſchen dem Rio Vichada und dem Guaviare,
ſowie zwiſchen dem Meta und dem Rio Paute geweſen zu ſein.
Gegenwärtig findet man Salivas nicht nur in Carichana,
ſondern auch in den Miſſionen der Provinz Caſanare, in
Cabapuna, Guanapalo, Cabiuna und Macuco. Letzteres im
Jahre 1730 vom Jeſuiten Fray Manuel Roman gegründete
Dorf hat 1300 Einwohner. Die Salivas ſind ein geſelliges,
ſanftes, faſt ſchüchternes Volk, und leichter, ich ſage nicht zu
civiliſieren, aber in der Zucht zu halten als andere am Ori-
noko. Um ſich der Herrſchaft der Kariben zu entziehen, ließen
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/92>, abgerufen am 17.07.2024.
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