kennen lernen wollte, und in den Wäldern von Guyana, dem klassischen Lande der Lüge und der märchenhaften Ueberliefe- rungen, die Arglist der Indianer die schimärische Vorstellung von den Schätzen des Dorado, welche die Einbildungskraft der ersten Eroberer so gewaltig beschäftigt hatte, von neuem in Umlauf brachte.
In diesen Bergen der Encaramada, die, wie der meiste grobkörnige Granit, keine Gänge enthalten, fragt man sich, wo die Goldgeschiebe herkommen, welche Juan Martinez 1 und Ralegh bei den Indianern am Orinoko in so großer Menge gesehen haben wollen. Nach meinen Beobachtungen in diesem Teile von Amerika glaube ich, daß das Gold, wie das Zinn, zuweilen in kaum sichtbaren Teilchen durch die ganze Masse des Granitgesteins zerstreut ist, ohne daß man kleine verästete und ineinander verschlungene Gänge anzunehmen hat. Noch nicht lange fanden Indianer aus Encaramada in der Que- brada del Tigre (Tigerschlucht) ein Goldkorn von 4 mm Durch- messer. Es war rund und schien im Wasser gerollt. Diese Entdeckung war den Missionären noch wichtiger als den In- dianern, aber sie blieb alleinstehend.
Ich kann dieses erste Glied des Bergstockes der Encara- mada nicht verlassen, ohne eines Umstandes zu erwähnen, der Pater Gili nicht unbekannt geblieben war, und dessen man während unseres Aufenthaltes in den Missionen am Orinoko häufig gegen uns erwähnte. Unter den Eingeborenen dieser Länder hat sich die Sage erhalten, "beim großen Wasser, als ihre Väter das Kanoe besteigen mußten, um der allgemeinen Ueberschwemmung zu entgehen, haben die Wellen des Meeres die Felsen von Encaramada bespült". Diese Sage kommt nicht nur bei einem einzelnen Volke, den Tamanaken vor, sie gehört zu einem Kreise geschichtlicher Ueberlieferungen, aus dem sich einzelne Vorstellungen bei den Maypures an den großen Katarakten, bei den Indianern am Rio Erevato, der sich in den Caura ergießt, und fast bei allen Stämmen am oberen Orinoko finden. Fragt man die Tamanaken, wie das Menschengeschlecht diese große Katastrophe, die Wasserzeit der Mexikaner, überlebt habe, so sagen sie, "ein Mann und ein Weib haben sich auf einen hohen Berg, Namens Ta- manacu, am Ufer des Asiveru, geflüchtet; da haben sie Früchte der Mauritiapalme hinter sich über ihre Köpfe geworfen, und
1 Der Begleiter des Diego de Ordaz.
kennen lernen wollte, und in den Wäldern von Guyana, dem klaſſiſchen Lande der Lüge und der märchenhaften Ueberliefe- rungen, die Argliſt der Indianer die ſchimäriſche Vorſtellung von den Schätzen des Dorado, welche die Einbildungskraft der erſten Eroberer ſo gewaltig beſchäftigt hatte, von neuem in Umlauf brachte.
In dieſen Bergen der Encaramada, die, wie der meiſte grobkörnige Granit, keine Gänge enthalten, fragt man ſich, wo die Goldgeſchiebe herkommen, welche Juan Martinez 1 und Ralegh bei den Indianern am Orinoko in ſo großer Menge geſehen haben wollen. Nach meinen Beobachtungen in dieſem Teile von Amerika glaube ich, daß das Gold, wie das Zinn, zuweilen in kaum ſichtbaren Teilchen durch die ganze Maſſe des Granitgeſteins zerſtreut iſt, ohne daß man kleine veräſtete und ineinander verſchlungene Gänge anzunehmen hat. Noch nicht lange fanden Indianer aus Encaramada in der Que- brada del Tigre (Tigerſchlucht) ein Goldkorn von 4 mm Durch- meſſer. Es war rund und ſchien im Waſſer gerollt. Dieſe Entdeckung war den Miſſionären noch wichtiger als den In- dianern, aber ſie blieb alleinſtehend.
Ich kann dieſes erſte Glied des Bergſtockes der Encara- mada nicht verlaſſen, ohne eines Umſtandes zu erwähnen, der Pater Gili nicht unbekannt geblieben war, und deſſen man während unſeres Aufenthaltes in den Miſſionen am Orinoko häufig gegen uns erwähnte. Unter den Eingeborenen dieſer Länder hat ſich die Sage erhalten, „beim großen Waſſer, als ihre Väter das Kanoe beſteigen mußten, um der allgemeinen Ueberſchwemmung zu entgehen, haben die Wellen des Meeres die Felſen von Encaramada beſpült“. Dieſe Sage kommt nicht nur bei einem einzelnen Volke, den Tamanaken vor, ſie gehört zu einem Kreiſe geſchichtlicher Ueberlieferungen, aus dem ſich einzelne Vorſtellungen bei den Maypures an den großen Katarakten, bei den Indianern am Rio Erevato, der ſich in den Caura ergießt, und faſt bei allen Stämmen am oberen Orinoko finden. Fragt man die Tamanaken, wie das Menſchengeſchlecht dieſe große Kataſtrophe, die Waſſerzeit der Mexikaner, überlebt habe, ſo ſagen ſie, „ein Mann und ein Weib haben ſich auf einen hohen Berg, Namens Ta- manacu, am Ufer des Aſiveru, geflüchtet; da haben ſie Früchte der Mauritiapalme hinter ſich über ihre Köpfe geworfen, und
1 Der Begleiter des Diego de Ordaz.
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kennen lernen wollte, und in den Wäldern von Guyana, dem
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rungen, die Argliſt der Indianer die ſchimäriſche Vorſtellung
von den Schätzen des Dorado, welche die Einbildungskraft
der erſten Eroberer ſo gewaltig beſchäftigt hatte, von neuem
in Umlauf brachte.
In dieſen Bergen der Encaramada, die, wie der meiſte
grobkörnige Granit, keine Gänge enthalten, fragt man ſich,
wo die Goldgeſchiebe herkommen, welche Juan Martinez 1 und
Ralegh bei den Indianern am Orinoko in ſo großer Menge
geſehen haben wollen. Nach meinen Beobachtungen in dieſem
Teile von Amerika glaube ich, daß das Gold, wie das Zinn,
zuweilen in kaum ſichtbaren Teilchen durch die ganze Maſſe
des Granitgeſteins zerſtreut iſt, ohne daß man kleine veräſtete
und ineinander verſchlungene Gänge anzunehmen hat. Noch
nicht lange fanden Indianer aus Encaramada in der Que-
brada del Tigre (Tigerſchlucht) ein Goldkorn von 4 mm Durch-
meſſer. Es war rund und ſchien im Waſſer gerollt. Dieſe
Entdeckung war den Miſſionären noch wichtiger als den In-
dianern, aber ſie blieb alleinſtehend.
Ich kann dieſes erſte Glied des Bergſtockes der Encara-
mada nicht verlaſſen, ohne eines Umſtandes zu erwähnen, der
Pater Gili nicht unbekannt geblieben war, und deſſen man
während unſeres Aufenthaltes in den Miſſionen am Orinoko
häufig gegen uns erwähnte. Unter den Eingeborenen dieſer
Länder hat ſich die Sage erhalten, „beim großen Waſſer, als
ihre Väter das Kanoe beſteigen mußten, um der allgemeinen
Ueberſchwemmung zu entgehen, haben die Wellen des Meeres
die Felſen von Encaramada beſpült“. Dieſe Sage kommt
nicht nur bei einem einzelnen Volke, den Tamanaken vor,
ſie gehört zu einem Kreiſe geſchichtlicher Ueberlieferungen, aus
dem ſich einzelne Vorſtellungen bei den Maypures an den
großen Katarakten, bei den Indianern am Rio Erevato, der
ſich in den Caura ergießt, und faſt bei allen Stämmen am
oberen Orinoko finden. Fragt man die Tamanaken, wie das
Menſchengeſchlecht dieſe große Kataſtrophe, die Waſſerzeit
der Mexikaner, überlebt habe, ſo ſagen ſie, „ein Mann und
ein Weib haben ſich auf einen hohen Berg, Namens Ta-
manacu, am Ufer des Aſiveru, geflüchtet; da haben ſie Früchte
der Mauritiapalme hinter ſich über ihre Köpfe geworfen, und
1 Der Begleiter des Diego de Ordaz.
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/54>, abgerufen am 16.07.2024.
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