behaupten, sie kommen aus dem Lande der "Weiber ohne Männer" (Cougnantainsecouima oder Aikeambenano -- Weiber, die allein leben). In San Carlos und den benach- barten Dörfern nannte man uns die Quellen des Orinoko östlich von Esmeralda, in den Missionen am Carony und in Angostura die Quellen des Rio Branco als die natürlichen Lagerstätten der grünen Steine. Diese Angaben bestätigen den Bericht eines alten Soldaten von der Garnison von Cayenne, von dem La Condamine spricht und demzufolge diese Mine- ralien aus dem Lande der Weiber westwärts von den Stromschnellen des Oyapoc kommen. Die Indianer im Fort Topayos am Amazonenstrom, 5° ostwärts vom Einfluß des Rio Negro, besaßen früher ziemlich viele Steine der Art. Hatten sie dieselben von Norden her bekommen, das heißt aus dem Lande, das die Indianer am Rio Negro angeben und das sich von den Bergen von Cayenne an bis an die Quellen des Essequibo, des Carony, des Orinoko, des Parime und des Rio Trombetas erstreckt, oder sind diese Steine aus dem Süden gekommen, über den Rio Topayos, der von der großen Hochebene der Campos Parecis herabkommt? Der Aberglaube legt diesen Steinen große Wichtigkeit bei; man trägt sie als Amulette am Hals, denn sie schützen nach dem Volksglauben vor Nervenleiden, Fiebern und dem Biß giftiger Schlangen. Sie waren daher auch seit Jahrhunderten bei den Eingeborenen nördlich und südlich vom Orinoko ein Handels- artikel. Durch die Kariben, die für die Bocharen der Neuen Welt gelten können, lernte man sie an der Küste von Guyana kennen, und da dieselben Steine, gleich dem umlaufenden Geld, in entgegengesetzten Richtungen von Nation zu Nation gewandert sind, so kann es wohl sein, daß sie sich nicht vermehren und daß man ihre Lagerstätte nicht verheimlicht, sondern gar nicht kennt. Vor wenigen Jahren wurden mitten im hochgebildeten Europa, aus Anlaß eines lebhaften Streites über die ein- heimische China, allen Ernstes die grünen Steine vom Orinoko als ein kräftiges Fiebermittel in Vorschlag gebracht; wenn man der Leichtgläubigkeit der Europäer so viel zutraut, kann es nicht wunder nehmen, wenn die spanischen Kolonisten auf diese Amulette so viel halten als die Indianer und sie zu sehr bedeutenden Preisen verkauft werden.1 Gewöhnlich gibt
1 Ein 8 cm langer Cylinder kostet 12 bis 15 Piaster.
behaupten, ſie kommen aus dem Lande der „Weiber ohne Männer“ (Cougnantainsecouima oder Aikeambenano — Weiber, die allein leben). In San Carlos und den benach- barten Dörfern nannte man uns die Quellen des Orinoko öſtlich von Esmeralda, in den Miſſionen am Carony und in Angoſtura die Quellen des Rio Branco als die natürlichen Lagerſtätten der grünen Steine. Dieſe Angaben beſtätigen den Bericht eines alten Soldaten von der Garniſon von Cayenne, von dem La Condamine ſpricht und demzufolge dieſe Mine- ralien aus dem Lande der Weiber weſtwärts von den Stromſchnellen des Oyapoc kommen. Die Indianer im Fort Topayos am Amazonenſtrom, 5° oſtwärts vom Einfluß des Rio Negro, beſaßen früher ziemlich viele Steine der Art. Hatten ſie dieſelben von Norden her bekommen, das heißt aus dem Lande, das die Indianer am Rio Negro angeben und das ſich von den Bergen von Cayenne an bis an die Quellen des Eſſequibo, des Carony, des Orinoko, des Parime und des Rio Trombetas erſtreckt, oder ſind dieſe Steine aus dem Süden gekommen, über den Rio Topayos, der von der großen Hochebene der Campos Parecis herabkommt? Der Aberglaube legt dieſen Steinen große Wichtigkeit bei; man trägt ſie als Amulette am Hals, denn ſie ſchützen nach dem Volksglauben vor Nervenleiden, Fiebern und dem Biß giftiger Schlangen. Sie waren daher auch ſeit Jahrhunderten bei den Eingeborenen nördlich und ſüdlich vom Orinoko ein Handels- artikel. Durch die Kariben, die für die Bocharen der Neuen Welt gelten können, lernte man ſie an der Küſte von Guyana kennen, und da dieſelben Steine, gleich dem umlaufenden Geld, in entgegengeſetzten Richtungen von Nation zu Nation gewandert ſind, ſo kann es wohl ſein, daß ſie ſich nicht vermehren und daß man ihre Lagerſtätte nicht verheimlicht, ſondern gar nicht kennt. Vor wenigen Jahren wurden mitten im hochgebildeten Europa, aus Anlaß eines lebhaften Streites über die ein- heimiſche China, allen Ernſtes die grünen Steine vom Orinoko als ein kräftiges Fiebermittel in Vorſchlag gebracht; wenn man der Leichtgläubigkeit der Europäer ſo viel zutraut, kann es nicht wunder nehmen, wenn die ſpaniſchen Koloniſten auf dieſe Amulette ſo viel halten als die Indianer und ſie zu ſehr bedeutenden Preiſen verkauft werden.1 Gewöhnlich gibt
1 Ein 8 cm langer Cylinder koſtet 12 bis 15 Piaſter.
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behaupten, ſie kommen aus dem Lande der „Weiber ohne
Männer“ (Cougnantainsecouima oder Aikeambenano —
Weiber, die allein leben). In San Carlos und den benach-
barten Dörfern nannte man uns die Quellen des Orinoko
öſtlich von Esmeralda, in den Miſſionen am Carony und in
Angoſtura die Quellen des Rio Branco als die natürlichen
Lagerſtätten der grünen Steine. Dieſe Angaben beſtätigen den
Bericht eines alten Soldaten von der Garniſon von Cayenne,
von dem La Condamine ſpricht und demzufolge dieſe Mine-
ralien aus dem Lande der Weiber weſtwärts von den
Stromſchnellen des Oyapoc kommen. Die Indianer im Fort
Topayos am Amazonenſtrom, 5° oſtwärts vom Einfluß des
Rio Negro, beſaßen früher ziemlich viele Steine der Art.
Hatten ſie dieſelben von Norden her bekommen, das heißt
aus dem Lande, das die Indianer am Rio Negro angeben
und das ſich von den Bergen von Cayenne an bis an die
Quellen des Eſſequibo, des Carony, des Orinoko, des Parime
und des Rio Trombetas erſtreckt, oder ſind dieſe Steine aus
dem Süden gekommen, über den Rio Topayos, der von der
großen Hochebene der Campos Parecis herabkommt? Der
Aberglaube legt dieſen Steinen große Wichtigkeit bei; man
trägt ſie als Amulette am Hals, denn ſie ſchützen nach dem
Volksglauben vor Nervenleiden, Fiebern und dem Biß giftiger
Schlangen. Sie waren daher auch ſeit Jahrhunderten bei den
Eingeborenen nördlich und ſüdlich vom Orinoko ein Handels-
artikel. Durch die Kariben, die für die Bocharen der Neuen Welt
gelten können, lernte man ſie an der Küſte von Guyana kennen,
und da dieſelben Steine, gleich dem umlaufenden Geld, in
entgegengeſetzten Richtungen von Nation zu Nation gewandert
ſind, ſo kann es wohl ſein, daß ſie ſich nicht vermehren und
daß man ihre Lagerſtätte nicht verheimlicht, ſondern gar nicht
kennt. Vor wenigen Jahren wurden mitten im hochgebildeten
Europa, aus Anlaß eines lebhaften Streites über die ein-
heimiſche China, allen Ernſtes die grünen Steine vom Orinoko
als ein kräftiges Fiebermittel in Vorſchlag gebracht; wenn
man der Leichtgläubigkeit der Europäer ſo viel zutraut, kann
es nicht wunder nehmen, wenn die ſpaniſchen Koloniſten auf
dieſe Amulette ſo viel halten als die Indianer und ſie zu
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/294>, abgerufen am 16.02.2025.
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