Am 1. Mai. Die Indianer wollten lange vor Sonnen- aufgang aufbrechen. Wir waren vor ihnen auf den Beinen, weil ich vergeblich auf einen Stern wartete, der im Begriffe war, durch den Meridian zu gehen. Auf diesem nassen, dicht bewaldeten Landstriche wurden die Nächte immer finsterer, je näher wir dem Rio Negro und dem inneren Brasilien kamen. Wir blieben im Flußbett, bis der Tag anbrach; man hätte besorgen müssen, sich unter den Bäumen zu verirren. Sobald die Sonne aufgegangen war, ging es wieder, um der starken Strömung auszuweichen, durch den überschwemmten Wald. So kamen wir an den Zusammenfluß des Temi mit einem anderen kleinen Flusse, dem Tuamini, dessen Wasser gleichfalls schwarz ist, und gingen den letzteren gegen Südwest hinauf. Damit kamen wir auf die Mission Javita zu, die am Tuamini liegt. In dieser christlichen Niederlassung sollten wir die er- forderlichen Mittel finden, um unsere Piroge zu Land an den Rio Negro schaffen zu lassen. Wir kamen in San An- tonio de Javita erst um 11 Uhr vormittags an. Ein an sich unbedeutender Vorfall, der aber zeigt, wie ungemein furchtsam die kleinen Sagoine sind, hatte uns an der Mün- dung des Tuamini eine Zeitlang aufgehalten. Der Lärm, den die Spritzfische machen, hatte unsere Affen erschreckt, und einer war ins Wasser gefallen. Da diese Affenart, vielleicht weil sie ungemein mager ist, sehr schlecht schwimmt, so kostete es Mühe, ihn zu retten.
Zu unserer Freude trafen wir in Javita einen sehr geistes- lebendigen, vernünftigen und gefälligen Mönch. Wir mußten uns 4 bis 5 Tage in seinem Hause aufhalten, da so lange zum Transport unseres Fahrzeuges über den Trageplatz am Pimichin erforderlich war; wir benützten diese Zeit nicht allein, um uns in der Gegend umzusehen, sondern auch, um uns von einem Uebel zu befreien, an dem wir seit zwei Tagen litten. Wir hatten sehr starkes Jucken in den Fingergelenken und auf dem Handrücken. Der Missionär sagte uns, das seien Aradores (Ackerer), die sich in die Haut gegraben. Mit der Lupe sahen wir nur Streifen, parallele weißliche Furchen. Wegen der Form dieser Furchen heißt das Insekt der Ackerer. Man ließ eine Mulattin kommen, die sich rühmte, all die kleinen Tiere, welche sich in die Haut des Menschen graben, die Nigua, den Nuche, die Coya und den Ackerer, aus dem Fundament zu kennen; es war die Curandera, der Dorfarzt. Sie versprach uns, die Insekten, die uns so schreck-
Am 1. Mai. Die Indianer wollten lange vor Sonnen- aufgang aufbrechen. Wir waren vor ihnen auf den Beinen, weil ich vergeblich auf einen Stern wartete, der im Begriffe war, durch den Meridian zu gehen. Auf dieſem naſſen, dicht bewaldeten Landſtriche wurden die Nächte immer finſterer, je näher wir dem Rio Negro und dem inneren Braſilien kamen. Wir blieben im Flußbett, bis der Tag anbrach; man hätte beſorgen müſſen, ſich unter den Bäumen zu verirren. Sobald die Sonne aufgegangen war, ging es wieder, um der ſtarken Strömung auszuweichen, durch den überſchwemmten Wald. So kamen wir an den Zuſammenfluß des Temi mit einem anderen kleinen Fluſſe, dem Tuamini, deſſen Waſſer gleichfalls ſchwarz iſt, und gingen den letzteren gegen Südweſt hinauf. Damit kamen wir auf die Miſſion Javita zu, die am Tuamini liegt. In dieſer chriſtlichen Niederlaſſung ſollten wir die er- forderlichen Mittel finden, um unſere Piroge zu Land an den Rio Negro ſchaffen zu laſſen. Wir kamen in San An- tonio de Javita erſt um 11 Uhr vormittags an. Ein an ſich unbedeutender Vorfall, der aber zeigt, wie ungemein furchtſam die kleinen Sagoine ſind, hatte uns an der Mün- dung des Tuamini eine Zeitlang aufgehalten. Der Lärm, den die Spritzfiſche machen, hatte unſere Affen erſchreckt, und einer war ins Waſſer gefallen. Da dieſe Affenart, vielleicht weil ſie ungemein mager iſt, ſehr ſchlecht ſchwimmt, ſo koſtete es Mühe, ihn zu retten.
Zu unſerer Freude trafen wir in Javita einen ſehr geiſtes- lebendigen, vernünftigen und gefälligen Mönch. Wir mußten uns 4 bis 5 Tage in ſeinem Hauſe aufhalten, da ſo lange zum Transport unſeres Fahrzeuges über den Trageplatz am Pimichin erforderlich war; wir benützten dieſe Zeit nicht allein, um uns in der Gegend umzuſehen, ſondern auch, um uns von einem Uebel zu befreien, an dem wir ſeit zwei Tagen litten. Wir hatten ſehr ſtarkes Jucken in den Fingergelenken und auf dem Handrücken. Der Miſſionär ſagte uns, das ſeien Aradores (Ackerer), die ſich in die Haut gegraben. Mit der Lupe ſahen wir nur Streifen, parallele weißliche Furchen. Wegen der Form dieſer Furchen heißt das Inſekt der Ackerer. Man ließ eine Mulattin kommen, die ſich rühmte, all die kleinen Tiere, welche ſich in die Haut des Menſchen graben, die Nigua, den Nuche, die Coya und den Ackerer, aus dem Fundament zu kennen; es war die Curandera, der Dorfarzt. Sie verſprach uns, die Inſekten, die uns ſo ſchreck-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0230"n="222"/><p>Am 1. Mai. Die Indianer wollten lange vor Sonnen-<lb/>
aufgang aufbrechen. Wir waren vor ihnen auf den Beinen,<lb/>
weil ich vergeblich auf einen Stern wartete, der im Begriffe<lb/>
war, durch den Meridian zu gehen. Auf dieſem naſſen, dicht<lb/>
bewaldeten Landſtriche wurden die Nächte immer finſterer, je<lb/>
näher wir dem Rio Negro und dem inneren Braſilien kamen.<lb/>
Wir blieben im Flußbett, bis der Tag anbrach; man hätte<lb/>
beſorgen müſſen, ſich unter den Bäumen zu verirren. Sobald<lb/>
die Sonne aufgegangen war, ging es wieder, um der ſtarken<lb/>
Strömung auszuweichen, durch den überſchwemmten Wald.<lb/>
So kamen wir an den Zuſammenfluß des Temi mit einem<lb/>
anderen kleinen Fluſſe, dem Tuamini, deſſen Waſſer gleichfalls<lb/>ſchwarz iſt, und gingen den letzteren gegen Südweſt hinauf.<lb/>
Damit kamen wir auf die Miſſion Javita zu, die am Tuamini<lb/>
liegt. In dieſer chriſtlichen Niederlaſſung ſollten wir die er-<lb/>
forderlichen Mittel finden, um unſere Piroge zu Land an<lb/>
den Rio Negro ſchaffen zu laſſen. Wir kamen in <hirendition="#g">San An-<lb/>
tonio de Javita</hi> erſt um 11 Uhr vormittags an. Ein<lb/>
an ſich unbedeutender Vorfall, der aber zeigt, wie ungemein<lb/>
furchtſam die kleinen Sagoine ſind, hatte uns an der Mün-<lb/>
dung des Tuamini eine Zeitlang aufgehalten. Der Lärm,<lb/>
den die Spritzfiſche machen, hatte unſere Affen erſchreckt, und<lb/>
einer war ins Waſſer gefallen. Da dieſe Affenart, vielleicht<lb/>
weil ſie ungemein mager iſt, ſehr ſchlecht ſchwimmt, ſo koſtete<lb/>
es Mühe, ihn zu retten.</p><lb/><p>Zu unſerer Freude trafen wir in Javita einen ſehr geiſtes-<lb/>
lebendigen, vernünftigen und gefälligen Mönch. Wir mußten<lb/>
uns 4 bis 5 Tage in ſeinem Hauſe aufhalten, da ſo lange<lb/>
zum Transport unſeres Fahrzeuges über den <hirendition="#g">Trageplatz</hi><lb/>
am Pimichin erforderlich war; wir benützten dieſe Zeit nicht<lb/>
allein, um uns in der Gegend umzuſehen, ſondern auch, um<lb/>
uns von einem Uebel zu befreien, an dem wir ſeit zwei Tagen<lb/>
litten. Wir hatten ſehr ſtarkes Jucken in den Fingergelenken<lb/>
und auf dem Handrücken. Der Miſſionär ſagte uns, das<lb/>ſeien <hirendition="#aq">Aradores</hi> (Ackerer), die ſich in die Haut gegraben. Mit<lb/>
der Lupe ſahen wir nur Streifen, parallele weißliche Furchen.<lb/>
Wegen der Form dieſer Furchen heißt das Inſekt der <hirendition="#g">Ackerer</hi>.<lb/>
Man ließ eine Mulattin kommen, die ſich rühmte, all die<lb/>
kleinen Tiere, welche ſich in die Haut des Menſchen graben,<lb/>
die <hirendition="#g">Nigua</hi>, den <hirendition="#g">Nuche</hi>, die <hirendition="#g">Coya</hi> und den <hirendition="#g">Ackerer</hi>, aus<lb/>
dem Fundament zu kennen; es war die <hirendition="#g">Curandera</hi>, der<lb/>
Dorfarzt. Sie verſprach uns, die Inſekten, die uns ſo ſchreck-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[222/0230]
Am 1. Mai. Die Indianer wollten lange vor Sonnen-
aufgang aufbrechen. Wir waren vor ihnen auf den Beinen,
weil ich vergeblich auf einen Stern wartete, der im Begriffe
war, durch den Meridian zu gehen. Auf dieſem naſſen, dicht
bewaldeten Landſtriche wurden die Nächte immer finſterer, je
näher wir dem Rio Negro und dem inneren Braſilien kamen.
Wir blieben im Flußbett, bis der Tag anbrach; man hätte
beſorgen müſſen, ſich unter den Bäumen zu verirren. Sobald
die Sonne aufgegangen war, ging es wieder, um der ſtarken
Strömung auszuweichen, durch den überſchwemmten Wald.
So kamen wir an den Zuſammenfluß des Temi mit einem
anderen kleinen Fluſſe, dem Tuamini, deſſen Waſſer gleichfalls
ſchwarz iſt, und gingen den letzteren gegen Südweſt hinauf.
Damit kamen wir auf die Miſſion Javita zu, die am Tuamini
liegt. In dieſer chriſtlichen Niederlaſſung ſollten wir die er-
forderlichen Mittel finden, um unſere Piroge zu Land an
den Rio Negro ſchaffen zu laſſen. Wir kamen in San An-
tonio de Javita erſt um 11 Uhr vormittags an. Ein
an ſich unbedeutender Vorfall, der aber zeigt, wie ungemein
furchtſam die kleinen Sagoine ſind, hatte uns an der Mün-
dung des Tuamini eine Zeitlang aufgehalten. Der Lärm,
den die Spritzfiſche machen, hatte unſere Affen erſchreckt, und
einer war ins Waſſer gefallen. Da dieſe Affenart, vielleicht
weil ſie ungemein mager iſt, ſehr ſchlecht ſchwimmt, ſo koſtete
es Mühe, ihn zu retten.
Zu unſerer Freude trafen wir in Javita einen ſehr geiſtes-
lebendigen, vernünftigen und gefälligen Mönch. Wir mußten
uns 4 bis 5 Tage in ſeinem Hauſe aufhalten, da ſo lange
zum Transport unſeres Fahrzeuges über den Trageplatz
am Pimichin erforderlich war; wir benützten dieſe Zeit nicht
allein, um uns in der Gegend umzuſehen, ſondern auch, um
uns von einem Uebel zu befreien, an dem wir ſeit zwei Tagen
litten. Wir hatten ſehr ſtarkes Jucken in den Fingergelenken
und auf dem Handrücken. Der Miſſionär ſagte uns, das
ſeien Aradores (Ackerer), die ſich in die Haut gegraben. Mit
der Lupe ſahen wir nur Streifen, parallele weißliche Furchen.
Wegen der Form dieſer Furchen heißt das Inſekt der Ackerer.
Man ließ eine Mulattin kommen, die ſich rühmte, all die
kleinen Tiere, welche ſich in die Haut des Menſchen graben,
die Nigua, den Nuche, die Coya und den Ackerer, aus
dem Fundament zu kennen; es war die Curandera, der
Dorfarzt. Sie verſprach uns, die Inſekten, die uns ſo ſchreck-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/230>, abgerufen am 17.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.