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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.

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sich vom Aequator bis zum 8. Grad nördlicher Breite, das
heißt vom Fuße der Anden bis zum Atlantischen Meer aus-
dehnen, findet man dasselbe bemalte Töpfergeschirr an den
einsamsten Orten; aber es kommen damit nur künstlich durch-
bohrte Aexte aus Nephrit und anderem harten Stein vor.
Niemals hat man dort im Boden Werkzeuge oder Schmuck-
sachen aus Metall gefunden, obgleich man in den Gebirgen
an der Küste und auf dem Rücken der Kordilleren Gold und
Kupfer zu schmelzen und letzteres mit Zinn zur Verfertigung
von schneidenden Werkzeugen zu legieren verstand. Woher rührt
dieser scharfe Gegensatz zwischen der gemäßigten und der heißen
Zone? Die peruanischen Inka hatten ihre Eroberungen und
Religionskriege bis an den Napo und den Amazonenstrom
ausgedehnt, und dort hatte sich auch ihre Sprache auf einem
beschränkten Landstrich verbreitet; aber niemals scheint die
Kultur der Peruaner, der Bewohner von Quito und der
Muyscas in Neugranada auf den moralischen Zustand der
Völker von Guyana irgend einen merklichen Einfluß geäußert
zu haben. Noch mehr: in Nordamerika, zwischen dem Ohio,
dem Miami und den Seen, hat ein unbekanntes Volk, das
die Systematiker von den Tolteken und Azteken abstammen lassen
möchten, aus Erde, zuweilen sogar aus Steinen1 ohne Mörtel
3 bis 5 m hohe und 2,2 bis 2,6 km lange Mauern gebaut.
Diese rätselhaften Ringwälle und Ringmauern umschließen oft
gegen 150 Morgen Land. Bei den Niederungen am Orinoko,
wie bei den Niederungen an der Marietta, am Miami und
Ohio liegt der Mittelpunkt einer alten Kultur westwärts auf
dem Rücken der Gebirge; aber der Orinoko und die Länder
zwischen diesem großen Fluß und dem Amazonenstrom scheinen
niemals von Völkern bewohnt gewesen zu sein, deren Bauten
dem Zahn der Zeit widerstanden hätten. Sieht man dort
auch symbolische Figuren ins härteste Felsgestein eingegraben,
so hat man doch südlich vom 8. Breitengrade bis jetzt nie
weder einen Grabhügel, noch einen Ringwall, noch Erddämme
gefunden, wie sie weiter nordwärts auf den Ebenen von Va-
rinas und Canagua vorkommen. Solches ist der Gegensatz
zwischen den östlichen Stücken der beiden Amerika, zwischen

1 Aus kieselhaltigem Kalkstein in Pique am großen Miami, aus
Sandstein am Paint Creek 45 km von Chillicothe, wo die Mauer
2920 m lang ist.

ſich vom Aequator bis zum 8. Grad nördlicher Breite, das
heißt vom Fuße der Anden bis zum Atlantiſchen Meer aus-
dehnen, findet man dasſelbe bemalte Töpfergeſchirr an den
einſamſten Orten; aber es kommen damit nur künſtlich durch-
bohrte Aexte aus Nephrit und anderem harten Stein vor.
Niemals hat man dort im Boden Werkzeuge oder Schmuck-
ſachen aus Metall gefunden, obgleich man in den Gebirgen
an der Küſte und auf dem Rücken der Kordilleren Gold und
Kupfer zu ſchmelzen und letzteres mit Zinn zur Verfertigung
von ſchneidenden Werkzeugen zu legieren verſtand. Woher rührt
dieſer ſcharfe Gegenſatz zwiſchen der gemäßigten und der heißen
Zone? Die peruaniſchen Inka hatten ihre Eroberungen und
Religionskriege bis an den Napo und den Amazonenſtrom
ausgedehnt, und dort hatte ſich auch ihre Sprache auf einem
beſchränkten Landſtrich verbreitet; aber niemals ſcheint die
Kultur der Peruaner, der Bewohner von Quito und der
Muyscas in Neugranada auf den moraliſchen Zuſtand der
Völker von Guyana irgend einen merklichen Einfluß geäußert
zu haben. Noch mehr: in Nordamerika, zwiſchen dem Ohio,
dem Miami und den Seen, hat ein unbekanntes Volk, das
die Syſtematiker von den Tolteken und Azteken abſtammen laſſen
möchten, aus Erde, zuweilen ſogar aus Steinen1 ohne Mörtel
3 bis 5 m hohe und 2,2 bis 2,6 km lange Mauern gebaut.
Dieſe rätſelhaften Ringwälle und Ringmauern umſchließen oft
gegen 150 Morgen Land. Bei den Niederungen am Orinoko,
wie bei den Niederungen an der Marietta, am Miami und
Ohio liegt der Mittelpunkt einer alten Kultur weſtwärts auf
dem Rücken der Gebirge; aber der Orinoko und die Länder
zwiſchen dieſem großen Fluß und dem Amazonenſtrom ſcheinen
niemals von Völkern bewohnt geweſen zu ſein, deren Bauten
dem Zahn der Zeit widerſtanden hätten. Sieht man dort
auch ſymboliſche Figuren ins härteſte Felsgeſtein eingegraben,
ſo hat man doch ſüdlich vom 8. Breitengrade bis jetzt nie
weder einen Grabhügel, noch einen Ringwall, noch Erddämme
gefunden, wie ſie weiter nordwärts auf den Ebenen von Va-
rinas und Canagua vorkommen. Solches iſt der Gegenſatz
zwiſchen den öſtlichen Stücken der beiden Amerika, zwiſchen

1 Aus kieſelhaltigem Kalkſtein in Pique am großen Miami, aus
Sandſtein am Paint Creek 45 km von Chillicothe, wo die Mauer
2920 m lang iſt.
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[178/0186] ſich vom Aequator bis zum 8. Grad nördlicher Breite, das heißt vom Fuße der Anden bis zum Atlantiſchen Meer aus- dehnen, findet man dasſelbe bemalte Töpfergeſchirr an den einſamſten Orten; aber es kommen damit nur künſtlich durch- bohrte Aexte aus Nephrit und anderem harten Stein vor. Niemals hat man dort im Boden Werkzeuge oder Schmuck- ſachen aus Metall gefunden, obgleich man in den Gebirgen an der Küſte und auf dem Rücken der Kordilleren Gold und Kupfer zu ſchmelzen und letzteres mit Zinn zur Verfertigung von ſchneidenden Werkzeugen zu legieren verſtand. Woher rührt dieſer ſcharfe Gegenſatz zwiſchen der gemäßigten und der heißen Zone? Die peruaniſchen Inka hatten ihre Eroberungen und Religionskriege bis an den Napo und den Amazonenſtrom ausgedehnt, und dort hatte ſich auch ihre Sprache auf einem beſchränkten Landſtrich verbreitet; aber niemals ſcheint die Kultur der Peruaner, der Bewohner von Quito und der Muyscas in Neugranada auf den moraliſchen Zuſtand der Völker von Guyana irgend einen merklichen Einfluß geäußert zu haben. Noch mehr: in Nordamerika, zwiſchen dem Ohio, dem Miami und den Seen, hat ein unbekanntes Volk, das die Syſtematiker von den Tolteken und Azteken abſtammen laſſen möchten, aus Erde, zuweilen ſogar aus Steinen 1 ohne Mörtel 3 bis 5 m hohe und 2,2 bis 2,6 km lange Mauern gebaut. Dieſe rätſelhaften Ringwälle und Ringmauern umſchließen oft gegen 150 Morgen Land. Bei den Niederungen am Orinoko, wie bei den Niederungen an der Marietta, am Miami und Ohio liegt der Mittelpunkt einer alten Kultur weſtwärts auf dem Rücken der Gebirge; aber der Orinoko und die Länder zwiſchen dieſem großen Fluß und dem Amazonenſtrom ſcheinen niemals von Völkern bewohnt geweſen zu ſein, deren Bauten dem Zahn der Zeit widerſtanden hätten. Sieht man dort auch ſymboliſche Figuren ins härteſte Felsgeſtein eingegraben, ſo hat man doch ſüdlich vom 8. Breitengrade bis jetzt nie weder einen Grabhügel, noch einen Ringwall, noch Erddämme gefunden, wie ſie weiter nordwärts auf den Ebenen von Va- rinas und Canagua vorkommen. Solches iſt der Gegenſatz zwiſchen den öſtlichen Stücken der beiden Amerika, zwiſchen 1 Aus kieſelhaltigem Kalkſtein in Pique am großen Miami, aus Sandſtein am Paint Creek 45 km von Chillicothe, wo die Mauer 2920 m lang iſt.

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/186>, abgerufen am 24.11.2024.