Orinoko oder den Magdalenenfluß, nicht befahren hat, kann nicht begreifen, wie man ohne Unterlaß, jeden Augenblick im Leben von den Insekten, die in der Luft schweben, gepeinigt werden, weil die Unzahl dieser kleinen Tiere weite Landstrecken fast unbewohnbar machen kann. So sehr man auch gewöhnt sein mag, den Schmerz ohne Klage zu ertragen, so lebhaft einen auch der Gegenstand, den man eben beobachtet, beschäf- tigen mag, unvermeidlich wird man immer wieder davon ab- gezogen, wenn Moskiten, Zancudos, Jejen und Tem- praneros einem Hände und Gesicht bedecken, einen mit ihrem Saugrüssel, der in einen Stachel ausläuft, durch die Kleider durch stechen, und in Nase und Mund kriechen, so daß man husten und nießen muß, sobald man in freier Luft spricht. In den Missionen am Orinoko, in diesen von unermeßlichen Wäldern umgebenen Dörfern am Stromufer, ist aber auch die plaga de los moscos ein unerschöpflicher Stoff der Unter- haltung. Begegnen sich morgens zwei Leute, so sind ihre ersten Fragen: "Que le han parecido los zancudos de noche? Wie haben Sie die Zancados heute nacht gefunden?" -- "Como stamos hoy de mosquitos? Wie steht es heute mit den Moskiten?" Diese Fragen erinnern an eine chinesische Höflichkeitsformel, die auf den ehemaligen wilden Zustand des Landes, in dem sie entstanden sein mag, zurückweist. Man begrüßte sich früher im himmlischen Reiche mit den Worten: "Vou-to-hou? Seid ihr diese Nacht von Schlangen be- unruhigt worden?" Wir werden bald sehen, daß am Tua- mini, auf dem Magdalenenstrom, besonders aber in Choco, im Gold- und Platinalande, neben dem Moskitokompliment auch das chinesische Schlangenkompliment am Platze wäre.
Es ist hier der Ort, von der geographischen Ver- teilung dieser Insekten aus der Familie der Tipulae zu sprechen, die ganz merkwürdige Erscheinungen darbietet. Die- selbe scheint keineswegs bloß von der Hitze, der großen Feuchtig- keit und den großen Wäldern abzuhängen, sondern auch von schwer zu ermittelnden örtlichen Verhältnissen. Vorab ist zu bemerken, daß die Plage der Moskiten und Zancudos in der heißen Zone nicht so allgemein ist, als man gemeiniglich glaubt. Auf Hochebenen mehr als 780 m über dem Meeres- spiegel, in sehr trockenen Niederungen weit von den großen Strömen, z. B. in Cumana und Calabozo, gibt es nicht auf- fallend mehr Schnaken als in dem am stärksten bevölkerten Teile Europas. In Nueva Barcelona dagegen, und weiter
Orinoko oder den Magdalenenfluß, nicht befahren hat, kann nicht begreifen, wie man ohne Unterlaß, jeden Augenblick im Leben von den Inſekten, die in der Luft ſchweben, gepeinigt werden, weil die Unzahl dieſer kleinen Tiere weite Landſtrecken faſt unbewohnbar machen kann. So ſehr man auch gewöhnt ſein mag, den Schmerz ohne Klage zu ertragen, ſo lebhaft einen auch der Gegenſtand, den man eben beobachtet, beſchäf- tigen mag, unvermeidlich wird man immer wieder davon ab- gezogen, wenn Moskiten, Zancudos, Jejen und Tem- praneros einem Hände und Geſicht bedecken, einen mit ihrem Saugrüſſel, der in einen Stachel ausläuft, durch die Kleider durch ſtechen, und in Naſe und Mund kriechen, ſo daß man huſten und nießen muß, ſobald man in freier Luft ſpricht. In den Miſſionen am Orinoko, in dieſen von unermeßlichen Wäldern umgebenen Dörfern am Stromufer, iſt aber auch die plaga de los moscos ein unerſchöpflicher Stoff der Unter- haltung. Begegnen ſich morgens zwei Leute, ſo ſind ihre erſten Fragen: „Que le han parecido los zancudos de noche? Wie haben Sie die Zancados heute nacht gefunden?“ — „Como stamos hoy de mosquitos? Wie ſteht es heute mit den Moskiten?“ Dieſe Fragen erinnern an eine chineſiſche Höflichkeitsformel, die auf den ehemaligen wilden Zuſtand des Landes, in dem ſie entſtanden ſein mag, zurückweiſt. Man begrüßte ſich früher im himmliſchen Reiche mit den Worten: „Vou-to-hou? Seid ihr dieſe Nacht von Schlangen be- unruhigt worden?“ Wir werden bald ſehen, daß am Tua- mini, auf dem Magdalenenſtrom, beſonders aber in Choco, im Gold- und Platinalande, neben dem Moskitokompliment auch das chineſiſche Schlangenkompliment am Platze wäre.
Es iſt hier der Ort, von der geographiſchen Ver- teilung dieſer Inſekten aus der Familie der Tipulae zu ſprechen, die ganz merkwürdige Erſcheinungen darbietet. Die- ſelbe ſcheint keineswegs bloß von der Hitze, der großen Feuchtig- keit und den großen Wäldern abzuhängen, ſondern auch von ſchwer zu ermittelnden örtlichen Verhältniſſen. Vorab iſt zu bemerken, daß die Plage der Moskiten und Zancudos in der heißen Zone nicht ſo allgemein iſt, als man gemeiniglich glaubt. Auf Hochebenen mehr als 780 m über dem Meeres- ſpiegel, in ſehr trockenen Niederungen weit von den großen Strömen, z. B. in Cumana und Calabozo, gibt es nicht auf- fallend mehr Schnaken als in dem am ſtärkſten bevölkerten Teile Europas. In Nueva Barcelona dagegen, und weiter
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Orinoko oder den Magdalenenfluß, nicht befahren hat, kann
nicht begreifen, wie man ohne Unterlaß, jeden Augenblick im
Leben von den Inſekten, die in der Luft ſchweben, gepeinigt
werden, weil die Unzahl dieſer kleinen Tiere weite Landſtrecken
faſt unbewohnbar machen kann. So ſehr man auch gewöhnt
ſein mag, den Schmerz ohne Klage zu ertragen, ſo lebhaft
einen auch der Gegenſtand, den man eben beobachtet, beſchäf-
tigen mag, unvermeidlich wird man immer wieder davon ab-
gezogen, wenn Moskiten, Zancudos, Jejen und Tem-
praneros einem Hände und Geſicht bedecken, einen mit ihrem
Saugrüſſel, der in einen Stachel ausläuft, durch die Kleider
durch ſtechen, und in Naſe und Mund kriechen, ſo daß man
huſten und nießen muß, ſobald man in freier Luft ſpricht.
In den Miſſionen am Orinoko, in dieſen von unermeßlichen
Wäldern umgebenen Dörfern am Stromufer, iſt aber auch die
plaga de los moscos ein unerſchöpflicher Stoff der Unter-
haltung. Begegnen ſich morgens zwei Leute, ſo ſind ihre
erſten Fragen: „Que le han parecido los zancudos de noche?
Wie haben Sie die Zancados heute nacht gefunden?“ —
„Como stamos hoy de mosquitos? Wie ſteht es heute mit
den Moskiten?“ Dieſe Fragen erinnern an eine chineſiſche
Höflichkeitsformel, die auf den ehemaligen wilden Zuſtand
des Landes, in dem ſie entſtanden ſein mag, zurückweiſt. Man
begrüßte ſich früher im himmliſchen Reiche mit den Worten:
„Vou-to-hou? Seid ihr dieſe Nacht von Schlangen be-
unruhigt worden?“ Wir werden bald ſehen, daß am Tua-
mini, auf dem Magdalenenſtrom, beſonders aber in Choco,
im Gold- und Platinalande, neben dem Moskitokompliment
auch das chineſiſche Schlangenkompliment am Platze wäre.
Es iſt hier der Ort, von der geographiſchen Ver-
teilung dieſer Inſekten aus der Familie der Tipulae zu
ſprechen, die ganz merkwürdige Erſcheinungen darbietet. Die-
ſelbe ſcheint keineswegs bloß von der Hitze, der großen Feuchtig-
keit und den großen Wäldern abzuhängen, ſondern auch von
ſchwer zu ermittelnden örtlichen Verhältniſſen. Vorab iſt zu
bemerken, daß die Plage der Moskiten und Zancudos in der
heißen Zone nicht ſo allgemein iſt, als man gemeiniglich
glaubt. Auf Hochebenen mehr als 780 m über dem Meeres-
ſpiegel, in ſehr trockenen Niederungen weit von den großen
Strömen, z. B. in Cumana und Calabozo, gibt es nicht auf-
fallend mehr Schnaken als in dem am ſtärkſten bevölkerten
Teile Europas. In Nueva Barcelona dagegen, und weiter
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/152>, abgerufen am 16.02.2025.
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