Vater nur nach Hause, um zu essen und sich in seine Hänge- matte zu legen; er liebkost weder seine kleinen Kinder, noch seine Weiber, die da sind, ihn zu bedienen. Die väter- liche Zuneigung kommt erst dann zum Vorschein, wenn der Sohn so weit herangewachsen ist, daß er an der Jagd, am Fischfang und an der Arbeit in den Pflanzungen teil- nehmen kann.
Wenn nun aber auch der schändliche Brauch, durch ge- wisse Tränke Kinder abzutreiben, die Zahl der Geburten ver- mindert, so greifen diese Tränke die Gesundheit nicht so sehr an, daß nicht die jungen Weiber in reiferen Jahren wieder Mütter werden könnten. Diese physiologisch sehr merkwürdige Erscheinung ist den Mönchen in den Missionen längst aufge- fallen. Der Jesuit Gili, der 15 Jahre lang die Indianer am Orinoko Beichte gehört hat und sich rühmt, i segreti delle donne maritate zu kennen, äußert sich darüber mit verwunder- licher Naivität. "In Europa," sagt er, "fürchten sich die Ehe- weiber vor dem Kinderbekommen, weil sie nicht wissen, wie sie sie ernähren, kleiden, ausstatten sollen. Von all diesen Sorgen wissen die Weiber am Orinoko nichts. Sie wählen die Zeit, wo sie Mütter werden wollen, nach zwei gerade entgegengesetzten Systemen, je nachdem sie von den Mitteln, sich frisch und schön zu erhalten, diese oder jene Vorstellung haben. Die einen behaupten, und diese Meinung ist die vor- herrschende, es sei besser, man fange spät an Kinder zu be- kommen, um sich in den ersten Jahren der Ehe ohne Unter- brechung der Arbeit in Haus und Feld widmen zu können. Andere glauben im Gegenteil, es stärke die Gesundheit und verhelfe zu einem glücklichen Alter, wenn man sehr jung Mutter geworden sei. Je nachdem die Indianer das eine oder das andere System haben, werden die Abtreibemittel in den verschiedenen Lebensaltern gebraucht." Sieht man hier, wie selbstsüchtig der Wilde seine Berechnungen anstellt, so möchte man den civilisierten Völkern in Europa Glück wün- schen, daß Ecbolia, die dem Anschein nach der Gesundheit so wenig schaden, ihnen bis jetzt unbekannt geblieben sind. Durch die Einführung von dergleichen Tränken würde viel- leicht die Sittenverderbnis in den Städten noch gesteigert, wo ein Vierteil der Kinder nur zur Welt kommt, um von den Eltern verstoßen zu werden. Leicht möglich aber auch, daß die neuen Abtreibemittel in unserem Klima so gefährlich wären wie der Sevenbaum, die Aloe und das flüchtige Zimt-
Vater nur nach Hauſe, um zu eſſen und ſich in ſeine Hänge- matte zu legen; er liebkoſt weder ſeine kleinen Kinder, noch ſeine Weiber, die da ſind, ihn zu bedienen. Die väter- liche Zuneigung kommt erſt dann zum Vorſchein, wenn der Sohn ſo weit herangewachſen iſt, daß er an der Jagd, am Fiſchfang und an der Arbeit in den Pflanzungen teil- nehmen kann.
Wenn nun aber auch der ſchändliche Brauch, durch ge- wiſſe Tränke Kinder abzutreiben, die Zahl der Geburten ver- mindert, ſo greifen dieſe Tränke die Geſundheit nicht ſo ſehr an, daß nicht die jungen Weiber in reiferen Jahren wieder Mütter werden könnten. Dieſe phyſiologiſch ſehr merkwürdige Erſcheinung iſt den Mönchen in den Miſſionen längſt aufge- fallen. Der Jeſuit Gili, der 15 Jahre lang die Indianer am Orinoko Beichte gehört hat und ſich rühmt, i segreti delle donne maritate zu kennen, äußert ſich darüber mit verwunder- licher Naivität. „In Europa,“ ſagt er, „fürchten ſich die Ehe- weiber vor dem Kinderbekommen, weil ſie nicht wiſſen, wie ſie ſie ernähren, kleiden, ausſtatten ſollen. Von all dieſen Sorgen wiſſen die Weiber am Orinoko nichts. Sie wählen die Zeit, wo ſie Mütter werden wollen, nach zwei gerade entgegengeſetzten Syſtemen, je nachdem ſie von den Mitteln, ſich friſch und ſchön zu erhalten, dieſe oder jene Vorſtellung haben. Die einen behaupten, und dieſe Meinung iſt die vor- herrſchende, es ſei beſſer, man fange ſpät an Kinder zu be- kommen, um ſich in den erſten Jahren der Ehe ohne Unter- brechung der Arbeit in Haus und Feld widmen zu können. Andere glauben im Gegenteil, es ſtärke die Geſundheit und verhelfe zu einem glücklichen Alter, wenn man ſehr jung Mutter geworden ſei. Je nachdem die Indianer das eine oder das andere Syſtem haben, werden die Abtreibemittel in den verſchiedenen Lebensaltern gebraucht.“ Sieht man hier, wie ſelbſtſüchtig der Wilde ſeine Berechnungen anſtellt, ſo möchte man den civiliſierten Völkern in Europa Glück wün- ſchen, daß Ecbolia, die dem Anſchein nach der Geſundheit ſo wenig ſchaden, ihnen bis jetzt unbekannt geblieben ſind. Durch die Einführung von dergleichen Tränken würde viel- leicht die Sittenverderbnis in den Städten noch geſteigert, wo ein Vierteil der Kinder nur zur Welt kommt, um von den Eltern verſtoßen zu werden. Leicht möglich aber auch, daß die neuen Abtreibemittel in unſerem Klima ſo gefährlich wären wie der Sevenbaum, die Aloe und das flüchtige Zimt-
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Vater nur nach Hauſe, um zu eſſen und ſich in ſeine Hänge-
matte zu legen; er liebkoſt weder ſeine kleinen Kinder, noch
ſeine Weiber, die da ſind, ihn zu bedienen. Die väter-
liche Zuneigung kommt erſt dann zum Vorſchein, wenn der
Sohn ſo weit herangewachſen iſt, daß er an der Jagd, am
Fiſchfang und an der Arbeit in den Pflanzungen teil-
nehmen kann.
Wenn nun aber auch der ſchändliche Brauch, durch ge-
wiſſe Tränke Kinder abzutreiben, die Zahl der Geburten ver-
mindert, ſo greifen dieſe Tränke die Geſundheit nicht ſo ſehr
an, daß nicht die jungen Weiber in reiferen Jahren wieder
Mütter werden könnten. Dieſe phyſiologiſch ſehr merkwürdige
Erſcheinung iſt den Mönchen in den Miſſionen längſt aufge-
fallen. Der Jeſuit Gili, der 15 Jahre lang die Indianer
am Orinoko Beichte gehört hat und ſich rühmt, i segreti delle
donne maritate zu kennen, äußert ſich darüber mit verwunder-
licher Naivität. „In Europa,“ ſagt er, „fürchten ſich die Ehe-
weiber vor dem Kinderbekommen, weil ſie nicht wiſſen, wie
ſie ſie ernähren, kleiden, ausſtatten ſollen. Von all dieſen
Sorgen wiſſen die Weiber am Orinoko nichts. Sie wählen
die Zeit, wo ſie Mütter werden wollen, nach zwei gerade
entgegengeſetzten Syſtemen, je nachdem ſie von den Mitteln,
ſich friſch und ſchön zu erhalten, dieſe oder jene Vorſtellung
haben. Die einen behaupten, und dieſe Meinung iſt die vor-
herrſchende, es ſei beſſer, man fange ſpät an Kinder zu be-
kommen, um ſich in den erſten Jahren der Ehe ohne Unter-
brechung der Arbeit in Haus und Feld widmen zu können.
Andere glauben im Gegenteil, es ſtärke die Geſundheit und
verhelfe zu einem glücklichen Alter, wenn man ſehr jung
Mutter geworden ſei. Je nachdem die Indianer das eine
oder das andere Syſtem haben, werden die Abtreibemittel in
den verſchiedenen Lebensaltern gebraucht.“ Sieht man hier,
wie ſelbſtſüchtig der Wilde ſeine Berechnungen anſtellt, ſo
möchte man den civiliſierten Völkern in Europa Glück wün-
ſchen, daß Ecbolia, die dem Anſchein nach der Geſundheit
ſo wenig ſchaden, ihnen bis jetzt unbekannt geblieben ſind.
Durch die Einführung von dergleichen Tränken würde viel-
leicht die Sittenverderbnis in den Städten noch geſteigert,
wo ein Vierteil der Kinder nur zur Welt kommt, um von
den Eltern verſtoßen zu werden. Leicht möglich aber auch,
daß die neuen Abtreibemittel in unſerem Klima ſo gefährlich
wären wie der Sevenbaum, die Aloe und das flüchtige Zimt-
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial03_1859/123>, abgerufen am 16.02.2025.
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