Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 3. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1860.Familienehre, daß man eines der Kinder umbringe. "Zwillinge Grausamkeiten derart sind nun allerdings nicht so häufig, Familienehre, daß man eines der Kinder umbringe. „Zwillinge Grauſamkeiten derart ſind nun allerdings nicht ſo häufig, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0122" n="114"/> Familienehre, daß man eines der Kinder umbringe. „Zwillinge<lb/> in die Welt ſetzen, heißt ſich dem allgemeinen Spott preis-<lb/> geben, heißt es machen wie Ratten, Beuteltiere und das<lb/> niedrigſte Getier, das viele Junge zugleich wirft.“ Aber noch<lb/> mehr: „Zwei zugleich geborene Kinder können nicht von einem<lb/> Vater ſein.“ Das iſt ein Lehrſatz in der Phyſiologie der<lb/> Salivas, und unter allen Himmelsſtrichen, auf allen Stufen<lb/> der geſellſchaftlichen Entwickelung ſieht man, daß das Volk,<lb/> hat es ſich einmal einen Satz derart zu eigen gemacht, zäher<lb/> daran feſthält als die Unterrichteten, die ihn zuerſt aufs<lb/> Tapet gebracht. Um des Hausfriedens willen nehmen es alte<lb/> Baſen der Mutter oder die <hi rendition="#aq">Mure japoic-nei</hi> (Hebamme) auf<lb/> ſich, eines der Kinder auf die Seite zu ſchaffen. Hat der<lb/> Neugeborene, wenn er auch kein Zwilling iſt, irgend eine<lb/> körperliche Mißbildung, ſo bringt ihn der Vater auf der Stelle<lb/> um. Man will nur wohlgebildete, kräftige Kinder; denn bei<lb/> den Mißbildungen hat der böſe Geiſt <hi rendition="#g">Joloquiamo</hi> die<lb/> Hand im Spiel, oder der Vogel <hi rendition="#g">Tikitiki</hi>, der Feind des<lb/> Menſchengeſchlechtes. Zuweilen haben auch bloß ſehr ſchwäch-<lb/> liche Kinder dasſelbe Los. Fragt man einen Vater, was aus<lb/> einem ſeiner Söhne geworden ſei, ſo thut er, als wäre er<lb/> ihm durch einen natürlichen Tod entriſſen worden. Er ver-<lb/> leugnet eine That, die er für tadelnswert, aber nicht für<lb/> ſtrafbar hält. „Das arme <hi rendition="#g">Mure</hi> (Kind),“ heißt es, „konnte<lb/> nicht mit uns Schritt halten; man hätte jeden Augenblick auf<lb/> es warten müſſen; man hat nichts mehr von ihm geſehen,<lb/> es iſt nicht dahin gekommen, wo wir geſchlafen haben.“ Dies<lb/> iſt die Unſchuld und Sitteneinfalt, dies iſt das geprieſene<lb/> Glück des Menſchen <hi rendition="#g">im Urzuſtand</hi>! Man bringt ſein Kind<lb/> um, um nicht wegen Zwillingen lächerlich zu werden, um<lb/> nicht langſamer wandern, um ſich nicht eine kleine Entbehrung<lb/> auferlegen zu müſſen.</p><lb/> <p>Grauſamkeiten derart ſind nun allerdings nicht ſo häufig,<lb/> als man glaubt; indeſſen kommen ſie ſogar in den Miſſionen<lb/> vor, und zwar zur Zeit, wo die Indianer aus dem Dorfe<lb/> ziehen und ſich auf den „Conucos“ in den nahen Wäldern<lb/> aufhalten. Mit Unrecht ſchriebe man ſie der Polygamie zu,<lb/> in der die nicht katechiſierten Indianer leben. Bei der Viel-<lb/> weiberei iſt allerdings das häusliche Glück und der Friede<lb/> in den Familien gefährdet, aber trotz dieſes Brauches, der ja<lb/> auch ein Geſetz des Islams iſt, lieben die Morgenländer ihre<lb/> Kinder zärtlich. Bei den Indianern am Orinoko kommt der<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [114/0122]
Familienehre, daß man eines der Kinder umbringe. „Zwillinge
in die Welt ſetzen, heißt ſich dem allgemeinen Spott preis-
geben, heißt es machen wie Ratten, Beuteltiere und das
niedrigſte Getier, das viele Junge zugleich wirft.“ Aber noch
mehr: „Zwei zugleich geborene Kinder können nicht von einem
Vater ſein.“ Das iſt ein Lehrſatz in der Phyſiologie der
Salivas, und unter allen Himmelsſtrichen, auf allen Stufen
der geſellſchaftlichen Entwickelung ſieht man, daß das Volk,
hat es ſich einmal einen Satz derart zu eigen gemacht, zäher
daran feſthält als die Unterrichteten, die ihn zuerſt aufs
Tapet gebracht. Um des Hausfriedens willen nehmen es alte
Baſen der Mutter oder die Mure japoic-nei (Hebamme) auf
ſich, eines der Kinder auf die Seite zu ſchaffen. Hat der
Neugeborene, wenn er auch kein Zwilling iſt, irgend eine
körperliche Mißbildung, ſo bringt ihn der Vater auf der Stelle
um. Man will nur wohlgebildete, kräftige Kinder; denn bei
den Mißbildungen hat der böſe Geiſt Joloquiamo die
Hand im Spiel, oder der Vogel Tikitiki, der Feind des
Menſchengeſchlechtes. Zuweilen haben auch bloß ſehr ſchwäch-
liche Kinder dasſelbe Los. Fragt man einen Vater, was aus
einem ſeiner Söhne geworden ſei, ſo thut er, als wäre er
ihm durch einen natürlichen Tod entriſſen worden. Er ver-
leugnet eine That, die er für tadelnswert, aber nicht für
ſtrafbar hält. „Das arme Mure (Kind),“ heißt es, „konnte
nicht mit uns Schritt halten; man hätte jeden Augenblick auf
es warten müſſen; man hat nichts mehr von ihm geſehen,
es iſt nicht dahin gekommen, wo wir geſchlafen haben.“ Dies
iſt die Unſchuld und Sitteneinfalt, dies iſt das geprieſene
Glück des Menſchen im Urzuſtand! Man bringt ſein Kind
um, um nicht wegen Zwillingen lächerlich zu werden, um
nicht langſamer wandern, um ſich nicht eine kleine Entbehrung
auferlegen zu müſſen.
Grauſamkeiten derart ſind nun allerdings nicht ſo häufig,
als man glaubt; indeſſen kommen ſie ſogar in den Miſſionen
vor, und zwar zur Zeit, wo die Indianer aus dem Dorfe
ziehen und ſich auf den „Conucos“ in den nahen Wäldern
aufhalten. Mit Unrecht ſchriebe man ſie der Polygamie zu,
in der die nicht katechiſierten Indianer leben. Bei der Viel-
weiberei iſt allerdings das häusliche Glück und der Friede
in den Familien gefährdet, aber trotz dieſes Brauches, der ja
auch ein Geſetz des Islams iſt, lieben die Morgenländer ihre
Kinder zärtlich. Bei den Indianern am Orinoko kommt der
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