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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.

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indischen Klima ist so mächtig und großartig, daß man schon
nach wenigen Monaten Aufenthalt lange Jahre darin ver-
bracht zu haben meint. In Europa hat der Nordländer und
der Bewohner der Niederung selbst nach kurzem Besuch eine
ähnliche Empfindung, wenn er vom Golf von Neapel, von der
köstlichen Landschaft zwischen Tivoli und dem See von Nemi
oder von der wilden, großartigen Szenerie der Hochalpen und
Pyrenäen scheidet. Ueberall in der gemäßigten Zone zeigt
die Physiognomie der Pflanzenwelt nur wenige Kontraste.
Die Fichten und Eichen auf den Gebirgen Schwedens haben
Familienähnlichkeit mit denen, die unter dem schönen Himmel
Griechenlands und Italiens wachsen. Unter den Tropen da-
gegen, in den Tiefländern beider Indien erscheint alles neu
und wunderbar in der Natur. Auf freiem Felde, im Waldes-
dickicht fast nirgends ein Bild, das an Europa mahnt; denn
von der Vegetation hängt der Charakter einer Landschaft ab;
sie wirkt auf unsere Einbildungskraft durch ihre Masse, durch
den Kontrast zwischen ihren Gebilden und den Glanz ihrer
Farben. Je neuer und mächtiger die Eindrücke sind, desto
mehr löschen sie frühere Eindrücke aus, und durch die Stärke
erhalten sie den Anschein der Zeitdauer. Ich berufe mich auf
alle, die mit mehr Sinn für die Schönheiten der Natur als
für die Reize des geselligen Lebens lange in der heißen Zone
gelebt haben. Das erste Land, das ihr Fuß betreten, wie
teuer und denkwürdig bleibt es ihnen ihr Leben lang! Oft,
und bis ins höchste Alter, regt sich in ihnen ein dunkles
Sehnsuchtsgefühl, es noch einmal zu sehen. Cumana und sein
staubiger Boden stehen noch jetzt weit öfter vor meinem
inneren Auge als alle Wunder der Kordilleren. Unter dem
schönen südlichen Himmel wird selbst ein Land fast ohne
Pflanzenwuchs reizend durch das Licht und die Magie der in
der Luft spielenden Farben. Die Sonne beleuchtet nicht allein,
sie färbt die Gegenstände, sie umgibt sie mit einem leichten
Duft, der, ohne die Durchsichtigkeit der Luft zu mindern, die
Farben harmonischer macht, die Lichteffekte mildert und über
die Natur eine Ruhe ausgießt, die sich in unserer Seele wider-
spiegelt. Um den gewaltigen Eindruck der Landschaften beider
Indien, selbst kärglich bewaldeter Küstenstriche zu begreifen, be-
denke man nur, daß von Neapel dem Aequator zu der Himmel
in dem Verhältnis immer schöner wird, wie von der Provence
nach Unteritalien.

Wir liefen während der Flut über die Barre, welche der

indiſchen Klima iſt ſo mächtig und großartig, daß man ſchon
nach wenigen Monaten Aufenthalt lange Jahre darin ver-
bracht zu haben meint. In Europa hat der Nordländer und
der Bewohner der Niederung ſelbſt nach kurzem Beſuch eine
ähnliche Empfindung, wenn er vom Golf von Neapel, von der
köſtlichen Landſchaft zwiſchen Tivoli und dem See von Nemi
oder von der wilden, großartigen Szenerie der Hochalpen und
Pyrenäen ſcheidet. Ueberall in der gemäßigten Zone zeigt
die Phyſiognomie der Pflanzenwelt nur wenige Kontraſte.
Die Fichten und Eichen auf den Gebirgen Schwedens haben
Familienähnlichkeit mit denen, die unter dem ſchönen Himmel
Griechenlands und Italiens wachſen. Unter den Tropen da-
gegen, in den Tiefländern beider Indien erſcheint alles neu
und wunderbar in der Natur. Auf freiem Felde, im Waldes-
dickicht faſt nirgends ein Bild, das an Europa mahnt; denn
von der Vegetation hängt der Charakter einer Landſchaft ab;
ſie wirkt auf unſere Einbildungskraft durch ihre Maſſe, durch
den Kontraſt zwiſchen ihren Gebilden und den Glanz ihrer
Farben. Je neuer und mächtiger die Eindrücke ſind, deſto
mehr löſchen ſie frühere Eindrücke aus, und durch die Stärke
erhalten ſie den Anſchein der Zeitdauer. Ich berufe mich auf
alle, die mit mehr Sinn für die Schönheiten der Natur als
für die Reize des geſelligen Lebens lange in der heißen Zone
gelebt haben. Das erſte Land, das ihr Fuß betreten, wie
teuer und denkwürdig bleibt es ihnen ihr Leben lang! Oft,
und bis ins höchſte Alter, regt ſich in ihnen ein dunkles
Sehnſuchtsgefühl, es noch einmal zu ſehen. Cumana und ſein
ſtaubiger Boden ſtehen noch jetzt weit öfter vor meinem
inneren Auge als alle Wunder der Kordilleren. Unter dem
ſchönen ſüdlichen Himmel wird ſelbſt ein Land faſt ohne
Pflanzenwuchs reizend durch das Licht und die Magie der in
der Luft ſpielenden Farben. Die Sonne beleuchtet nicht allein,
ſie färbt die Gegenſtände, ſie umgibt ſie mit einem leichten
Duft, der, ohne die Durchſichtigkeit der Luft zu mindern, die
Farben harmoniſcher macht, die Lichteffekte mildert und über
die Natur eine Ruhe ausgießt, die ſich in unſerer Seele wider-
ſpiegelt. Um den gewaltigen Eindruck der Landſchaften beider
Indien, ſelbſt kärglich bewaldeter Küſtenſtriche zu begreifen, be-
denke man nur, daß von Neapel dem Aequator zu der Himmel
in dem Verhältnis immer ſchöner wird, wie von der Provence
nach Unteritalien.

Wir liefen während der Flut über die Barre, welche der

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[64/0072] indiſchen Klima iſt ſo mächtig und großartig, daß man ſchon nach wenigen Monaten Aufenthalt lange Jahre darin ver- bracht zu haben meint. In Europa hat der Nordländer und der Bewohner der Niederung ſelbſt nach kurzem Beſuch eine ähnliche Empfindung, wenn er vom Golf von Neapel, von der köſtlichen Landſchaft zwiſchen Tivoli und dem See von Nemi oder von der wilden, großartigen Szenerie der Hochalpen und Pyrenäen ſcheidet. Ueberall in der gemäßigten Zone zeigt die Phyſiognomie der Pflanzenwelt nur wenige Kontraſte. Die Fichten und Eichen auf den Gebirgen Schwedens haben Familienähnlichkeit mit denen, die unter dem ſchönen Himmel Griechenlands und Italiens wachſen. Unter den Tropen da- gegen, in den Tiefländern beider Indien erſcheint alles neu und wunderbar in der Natur. Auf freiem Felde, im Waldes- dickicht faſt nirgends ein Bild, das an Europa mahnt; denn von der Vegetation hängt der Charakter einer Landſchaft ab; ſie wirkt auf unſere Einbildungskraft durch ihre Maſſe, durch den Kontraſt zwiſchen ihren Gebilden und den Glanz ihrer Farben. Je neuer und mächtiger die Eindrücke ſind, deſto mehr löſchen ſie frühere Eindrücke aus, und durch die Stärke erhalten ſie den Anſchein der Zeitdauer. Ich berufe mich auf alle, die mit mehr Sinn für die Schönheiten der Natur als für die Reize des geſelligen Lebens lange in der heißen Zone gelebt haben. Das erſte Land, das ihr Fuß betreten, wie teuer und denkwürdig bleibt es ihnen ihr Leben lang! Oft, und bis ins höchſte Alter, regt ſich in ihnen ein dunkles Sehnſuchtsgefühl, es noch einmal zu ſehen. Cumana und ſein ſtaubiger Boden ſtehen noch jetzt weit öfter vor meinem inneren Auge als alle Wunder der Kordilleren. Unter dem ſchönen ſüdlichen Himmel wird ſelbſt ein Land faſt ohne Pflanzenwuchs reizend durch das Licht und die Magie der in der Luft ſpielenden Farben. Die Sonne beleuchtet nicht allein, ſie färbt die Gegenſtände, ſie umgibt ſie mit einem leichten Duft, der, ohne die Durchſichtigkeit der Luft zu mindern, die Farben harmoniſcher macht, die Lichteffekte mildert und über die Natur eine Ruhe ausgießt, die ſich in unſerer Seele wider- ſpiegelt. Um den gewaltigen Eindruck der Landſchaften beider Indien, ſelbſt kärglich bewaldeter Küſtenſtriche zu begreifen, be- denke man nur, daß von Neapel dem Aequator zu der Himmel in dem Verhältnis immer ſchöner wird, wie von der Provence nach Unteritalien. Wir liefen während der Flut über die Barre, welche der

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/72>, abgerufen am 28.11.2024.