diejenigen, die sich wie von innen heraus organisch entwickeln, kennen gar keinen äußerlichen Zuwachs durch Suffixe und Affixe, welchen Zuwachs wir schon öfters als Agglutination oder Inkorporation bezeichnet haben. Viele Formen, die wir jetzt für Flexionen der Wurzel halten, waren vielleicht ur- sprünglich Affixe, von denen nur ein oder zwei Konsonanten übrig geblieben sind. Es ist mit den Sprachen wie mit allem Organischen in der Natur; nichts steht ganz für sich, nichts ist dem anderen völlig unähnlich. Je weiter man in ihren inneren Bau eindringt, desto mehr schwinden die Kontraste, die auffallenden Eigentümlichkeiten. "Es ist damit wie mit den Wolken, die nur von weitem scharf umrissen scheinen." 1
Lassen wir aber auch für die Sprachen keinen durch- greifenden Einteilungsgrund gelten, so ist doch vollkommen zuzugeben, daß im gegenwärtigen Zustande die einen mehr Neigung haben zur Flexion, die anderen zur äußerlichen Aggre- gation. Zu den ersteren gehören bekanntlich die Sprachen des indischen, pelasgischen und germanischen Sprachstammes, zu den letzteren die amerikanischen Sprachen, das Koptische oder Altägyptische und in gewissem Grade die semitischen Sprachen und das Baskische. Schon das Wenige, das wir vom Idiom der Chaymas oben mitgeteilt, zeigt deutlich die durchgehende Neigung zur Inkorporation oder Aggregation gewisser Formen, die sich abtrennen lassen, wobei aber ein ziemlich entwickeltes Gefühl für Wohllaut ein paar Buchstaben wegwirft oder aber zusetzt. Durch diese Affixe im Auslaut der Worte werden die mannigfaltigsten Zahl-, Zeit- und Raumverhältnisse bezeichnet.
Betrachtet man den eigentümlichen Bau der amerikanischen Sprachen näher, so glaubt man zu erraten, woher die alte, in allen Missionen verbreitete Ansicht rührt, daß die ameri- kanischen Sprachen Aehnlichkeit mit dem Hebräischen und dem Baskischen haben. Ueberall, im Kloster Caripe wie am Orinoko, in Peru wie in Mexiko, hörte ich diesen Gedanken äußern, besonders Geistliche, die vom Hebräischen und Baskischen einige oberflächliche Kenntnis hatten. Liegen etwa religiöse Rück- sichten einer so seltsamen Annahme zu Grunde? In Nord- amerika, bei den Chokta und Chikasa, haben etwas leicht- gläubige Reisende, das Hallelujah der Hebräer singen hören,
1 Wilhelm v. Humboldt.
diejenigen, die ſich wie von innen heraus organiſch entwickeln, kennen gar keinen äußerlichen Zuwachs durch Suffixe und Affixe, welchen Zuwachs wir ſchon öfters als Agglutination oder Inkorporation bezeichnet haben. Viele Formen, die wir jetzt für Flexionen der Wurzel halten, waren vielleicht ur- ſprünglich Affixe, von denen nur ein oder zwei Konſonanten übrig geblieben ſind. Es iſt mit den Sprachen wie mit allem Organiſchen in der Natur; nichts ſteht ganz für ſich, nichts iſt dem anderen völlig unähnlich. Je weiter man in ihren inneren Bau eindringt, deſto mehr ſchwinden die Kontraſte, die auffallenden Eigentümlichkeiten. „Es iſt damit wie mit den Wolken, die nur von weitem ſcharf umriſſen ſcheinen.“ 1
Laſſen wir aber auch für die Sprachen keinen durch- greifenden Einteilungsgrund gelten, ſo iſt doch vollkommen zuzugeben, daß im gegenwärtigen Zuſtande die einen mehr Neigung haben zur Flexion, die anderen zur äußerlichen Aggre- gation. Zu den erſteren gehören bekanntlich die Sprachen des indiſchen, pelasgiſchen und germaniſchen Sprachſtammes, zu den letzteren die amerikaniſchen Sprachen, das Koptiſche oder Altägyptiſche und in gewiſſem Grade die ſemitiſchen Sprachen und das Baskiſche. Schon das Wenige, das wir vom Idiom der Chaymas oben mitgeteilt, zeigt deutlich die durchgehende Neigung zur Inkorporation oder Aggregation gewiſſer Formen, die ſich abtrennen laſſen, wobei aber ein ziemlich entwickeltes Gefühl für Wohllaut ein paar Buchſtaben wegwirft oder aber zuſetzt. Durch dieſe Affixe im Auslaut der Worte werden die mannigfaltigſten Zahl-, Zeit- und Raumverhältniſſe bezeichnet.
Betrachtet man den eigentümlichen Bau der amerikaniſchen Sprachen näher, ſo glaubt man zu erraten, woher die alte, in allen Miſſionen verbreitete Anſicht rührt, daß die ameri- kaniſchen Sprachen Aehnlichkeit mit dem Hebräiſchen und dem Baskiſchen haben. Ueberall, im Kloſter Caripe wie am Orinoko, in Peru wie in Mexiko, hörte ich dieſen Gedanken äußern, beſonders Geiſtliche, die vom Hebräiſchen und Baskiſchen einige oberflächliche Kenntnis hatten. Liegen etwa religiöſe Rück- ſichten einer ſo ſeltſamen Annahme zu Grunde? In Nord- amerika, bei den Chokta und Chikaſa, haben etwas leicht- gläubige Reiſende, das Hallelujah der Hebräer ſingen hören,
1 Wilhelm v. Humboldt.
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diejenigen, die ſich wie von innen heraus organiſch entwickeln,
kennen gar keinen äußerlichen Zuwachs durch Suffixe und
Affixe, welchen Zuwachs wir ſchon öfters als Agglutination
oder Inkorporation bezeichnet haben. Viele Formen, die wir
jetzt für Flexionen der Wurzel halten, waren vielleicht ur-
ſprünglich Affixe, von denen nur ein oder zwei Konſonanten
übrig geblieben ſind. Es iſt mit den Sprachen wie mit allem
Organiſchen in der Natur; nichts ſteht ganz für ſich, nichts
iſt dem anderen völlig unähnlich. Je weiter man in ihren
inneren Bau eindringt, deſto mehr ſchwinden die Kontraſte,
die auffallenden Eigentümlichkeiten. „Es iſt damit wie mit
den Wolken, die nur von weitem ſcharf umriſſen ſcheinen.“ 1
Laſſen wir aber auch für die Sprachen keinen durch-
greifenden Einteilungsgrund gelten, ſo iſt doch vollkommen
zuzugeben, daß im gegenwärtigen Zuſtande die einen mehr
Neigung haben zur Flexion, die anderen zur äußerlichen Aggre-
gation. Zu den erſteren gehören bekanntlich die Sprachen
des indiſchen, pelasgiſchen und germaniſchen Sprachſtammes,
zu den letzteren die amerikaniſchen Sprachen, das Koptiſche
oder Altägyptiſche und in gewiſſem Grade die ſemitiſchen
Sprachen und das Baskiſche. Schon das Wenige, das wir
vom Idiom der Chaymas oben mitgeteilt, zeigt deutlich die
durchgehende Neigung zur Inkorporation oder Aggregation
gewiſſer Formen, die ſich abtrennen laſſen, wobei aber ein
ziemlich entwickeltes Gefühl für Wohllaut ein paar Buchſtaben
wegwirft oder aber zuſetzt. Durch dieſe Affixe im Auslaut
der Worte werden die mannigfaltigſten Zahl-, Zeit- und
Raumverhältniſſe bezeichnet.
Betrachtet man den eigentümlichen Bau der amerikaniſchen
Sprachen näher, ſo glaubt man zu erraten, woher die alte,
in allen Miſſionen verbreitete Anſicht rührt, daß die ameri-
kaniſchen Sprachen Aehnlichkeit mit dem Hebräiſchen und dem
Baskiſchen haben. Ueberall, im Kloſter Caripe wie am Orinoko,
in Peru wie in Mexiko, hörte ich dieſen Gedanken äußern,
beſonders Geiſtliche, die vom Hebräiſchen und Baskiſchen einige
oberflächliche Kenntnis hatten. Liegen etwa religiöſe Rück-
ſichten einer ſo ſeltſamen Annahme zu Grunde? In Nord-
amerika, bei den Chokta und Chikaſa, haben etwas leicht-
gläubige Reiſende, das Hallelujah der Hebräer ſingen hören,
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/40>, abgerufen am 02.03.2025.
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