Paria sehr schwach waren, obgleich diese Küsten eine Fortsetzung des Litorales von Guayra und von alters her dafür bekannt sind, daß sie oft von unterirdischen Bebungen heimgesucht werden. Ließe sich annehmen, die gänzliche Zerstörung der vier Städte Caracas, Guayra, San Felipe und Merida sei von einem vulkanischen Herde unter der Insel San Vincent oder in der Nähe ausgegangen, so würde begreiflich, wie die Bewegung sich von Nordost nach Südwest auf einer Linie, die über die Eilande Los Hermanos bei Blanquilla läuft, fort- pflanzen konnte, ohne die Küsten von Araya, Cumana und Nueva Barcelona zu berühren. Ja, der Stoß konnte sich auf diese Weise fortpflanzen, ohne daß die dazwischen liegenden Punkte, z. B. die Eilande Hermanos, die geringste Erschütte- rung empfanden. Diese Erscheinung kommt in Peru und Mexiko häufig bei Erdbeben vor, die seit Jahrhunderten eine bestimmte Richtung einhalten. Die Bewohner der Anden haben einen naiven Ausdruck für einen Landstrich, der an der Bebung ringsum keinen Teil nimmt; sie sagen, "er macht eine Brücke" (que hace puente), wie um anzudeuten, daß die Schwingungen sich in ungeheurer Tiefe unter einer ruhig bleibenden Gebirgsart fortpflanzen.
Fünfzehn bis achtzehn Stunden lang nach der großen Katastrophe blieb der Boden ruhig. Die Nacht war, wie schon oben gesagt, schön und still, und erst nach dem 27. fingen die Stöße wieder an, und zwar begleitet von einem sehr starken und sehr anhaltenden unterirdischen Getöse (bramido). Die Einwohner von Caracas zerstreuten sich in der Umgegend; da aber Dörfer und Höfe so stark gelitten hatten wie die Stadt, fanden sie erst jenseits der Berge Los Teques, in den Thälern von Aragua und in den Llanos Obdach. Man spürte oft 15 Schwingungen an einem Tage. Am 5. April erfolgte ein Erdbeben, fast so stark wie das, in dem die Hauptstadt untergegangen. Der Boden bewegte sich mehrere Stunden lang wellenförmig auf und ab. In den Gebirgen gab es große Erdfälle; ungeheure Felsmassen brachen von der Silla los. Man behauptete sogar -- und diese Meinung ist noch jetzt im Lande weit verbreitet -- die beiden Kuppeln der Silla seien um 95 bis 115 m niedriger geworden; aber diese Behauptung stützt sich auf keine Messung. Wie ich gehört, bildet man sich auch in der Provinz Quito nach allen großen Erschütterungen ein, der Vulkan Tunguragua sei niedriger geworden.
Paria ſehr ſchwach waren, obgleich dieſe Küſten eine Fortſetzung des Litorales von Guayra und von alters her dafür bekannt ſind, daß ſie oft von unterirdiſchen Bebungen heimgeſucht werden. Ließe ſich annehmen, die gänzliche Zerſtörung der vier Städte Caracas, Guayra, San Felipe und Merida ſei von einem vulkaniſchen Herde unter der Inſel San Vincent oder in der Nähe ausgegangen, ſo würde begreiflich, wie die Bewegung ſich von Nordoſt nach Südweſt auf einer Linie, die über die Eilande Los Hermanos bei Blanquilla läuft, fort- pflanzen konnte, ohne die Küſten von Araya, Cumana und Nueva Barcelona zu berühren. Ja, der Stoß konnte ſich auf dieſe Weiſe fortpflanzen, ohne daß die dazwiſchen liegenden Punkte, z. B. die Eilande Hermanos, die geringſte Erſchütte- rung empfanden. Dieſe Erſcheinung kommt in Peru und Mexiko häufig bei Erdbeben vor, die ſeit Jahrhunderten eine beſtimmte Richtung einhalten. Die Bewohner der Anden haben einen naiven Ausdruck für einen Landſtrich, der an der Bebung ringsum keinen Teil nimmt; ſie ſagen, „er macht eine Brücke“ (que hace puente), wie um anzudeuten, daß die Schwingungen ſich in ungeheurer Tiefe unter einer ruhig bleibenden Gebirgsart fortpflanzen.
Fünfzehn bis achtzehn Stunden lang nach der großen Kataſtrophe blieb der Boden ruhig. Die Nacht war, wie ſchon oben geſagt, ſchön und ſtill, und erſt nach dem 27. fingen die Stöße wieder an, und zwar begleitet von einem ſehr ſtarken und ſehr anhaltenden unterirdiſchen Getöſe (bramido). Die Einwohner von Caracas zerſtreuten ſich in der Umgegend; da aber Dörfer und Höfe ſo ſtark gelitten hatten wie die Stadt, fanden ſie erſt jenſeits der Berge Los Teques, in den Thälern von Aragua und in den Llanos Obdach. Man ſpürte oft 15 Schwingungen an einem Tage. Am 5. April erfolgte ein Erdbeben, faſt ſo ſtark wie das, in dem die Hauptſtadt untergegangen. Der Boden bewegte ſich mehrere Stunden lang wellenförmig auf und ab. In den Gebirgen gab es große Erdfälle; ungeheure Felsmaſſen brachen von der Silla los. Man behauptete ſogar — und dieſe Meinung iſt noch jetzt im Lande weit verbreitet — die beiden Kuppeln der Silla ſeien um 95 bis 115 m niedriger geworden; aber dieſe Behauptung ſtützt ſich auf keine Meſſung. Wie ich gehört, bildet man ſich auch in der Provinz Quito nach allen großen Erſchütterungen ein, der Vulkan Tunguragua ſei niedriger geworden.
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Paria ſehr ſchwach waren, obgleich dieſe Küſten eine Fortſetzung
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werden. Ließe ſich annehmen, die gänzliche Zerſtörung der
vier Städte Caracas, Guayra, San Felipe und Merida ſei
von einem vulkaniſchen Herde unter der Inſel San Vincent
oder in der Nähe ausgegangen, ſo würde begreiflich, wie die
Bewegung ſich von Nordoſt nach Südweſt auf einer Linie, die
über die Eilande Los Hermanos bei Blanquilla läuft, fort-
pflanzen konnte, ohne die Küſten von Araya, Cumana und
Nueva Barcelona zu berühren. Ja, der Stoß konnte ſich auf
dieſe Weiſe fortpflanzen, ohne daß die dazwiſchen liegenden
Punkte, z. B. die Eilande Hermanos, die geringſte Erſchütte-
rung empfanden. Dieſe Erſcheinung kommt in Peru und
Mexiko häufig bei Erdbeben vor, die ſeit Jahrhunderten eine
beſtimmte Richtung einhalten. Die Bewohner der Anden
haben einen naiven Ausdruck für einen Landſtrich, der an der
Bebung ringsum keinen Teil nimmt; ſie ſagen, „er macht
eine Brücke“ (que hace puente), wie um anzudeuten, daß
die Schwingungen ſich in ungeheurer Tiefe unter einer ruhig
bleibenden Gebirgsart fortpflanzen.
Fünfzehn bis achtzehn Stunden lang nach der großen
Kataſtrophe blieb der Boden ruhig. Die Nacht war, wie ſchon
oben geſagt, ſchön und ſtill, und erſt nach dem 27. fingen die
Stöße wieder an, und zwar begleitet von einem ſehr ſtarken
und ſehr anhaltenden unterirdiſchen Getöſe (bramido). Die
Einwohner von Caracas zerſtreuten ſich in der Umgegend; da
aber Dörfer und Höfe ſo ſtark gelitten hatten wie die Stadt,
fanden ſie erſt jenſeits der Berge Los Teques, in den Thälern
von Aragua und in den Llanos Obdach. Man ſpürte oft
15 Schwingungen an einem Tage. Am 5. April erfolgte
ein Erdbeben, faſt ſo ſtark wie das, in dem die Hauptſtadt
untergegangen. Der Boden bewegte ſich mehrere Stunden
lang wellenförmig auf und ab. In den Gebirgen gab es
große Erdfälle; ungeheure Felsmaſſen brachen von der Silla
los. Man behauptete ſogar — und dieſe Meinung iſt noch
jetzt im Lande weit verbreitet — die beiden Kuppeln der
Silla ſeien um 95 bis 115 m niedriger geworden; aber dieſe
Behauptung ſtützt ſich auf keine Meſſung. Wie ich gehört,
bildet man ſich auch in der Provinz Quito nach allen großen
Erſchütterungen ein, der Vulkan Tunguragua ſei niedriger
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 158. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/166>, abgerufen am 16.02.2025.
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