einzelnen, scheut der Mensch das Licht, das ihm die wahren Ursachen des Geschehenen zeigte und die begleitenden Um- stände erkennen ließe. Ich glaubte, in diesem Werke nieder- legen zu sollen, was ich an zuverlässiger Kunde über die Erd- stöße zusammengebracht, die am 26. März 1812 die Stadt Caracas zerstört und in der Provinz Venezuela fast in einem Augenblick über zwanzigtausend Menschen das Leben gekostet haben. Die Verbindungen, die ich fortwährend mit Leuten aller Stände unterhalten, setzten mich in den Stand, die Be- richte mehrerer Augenzeugen zu vergleichen und Fragen über Punkte an sie zu richten, an deren Aufklärung der Wissen- schaft vorzugsweise gelegen ist. Als Geschichtschreiber der Natur hat der Reisende die Zeit des Eintrittes großer Kata- strophen festzustellen, ihren Zusammenhang und ihre gegen- seitigen Verhältnisse zu untersuchen, und im raschen Ablauf der Zeit, im ununterbrochenen Zuge sich drängender Ver- wandlungen feste Punkte zu bezeichnen, mit denen einst andere Katastrophen vergleichen werden mögen. In der unermeßlichen Zeit, welche die Geschichte der Natur umfaßt, rücken alle Zeit- punkte des Geschehenen nahe zusammen; die verflossenen Jahre erscheinen wie Augenblicke, und wenn die physische Beschrei- bung eines Landes von keinem allgemeinen und überhaupt von keinem großen Interesse ist, so hat sie zum wenigsten den Vorteil, daß sie nicht veraltet. Betrachtungen dieser Art haben La Condamine bewogen, die denkwürdigen Ausbrüche des Vulkanes Cotopaxi,1 die lange nach seinem Abgange von Quito stattgefunden, in seiner "Reise zum Aequator" zu beschreiben. Ich glaube dem Beispiel des großen Gelehrten desto unbe- sorgter vor irgend welchem Vorwurf folgen zu dürfen, da die Ereignisse, die ich zu beschreiben gedenke, für die Theorie von den vulkanischen Reaktionen sprechen, das heißt für den Einfluß, den ein System von Vulkanen auf den weiten Landstrich umher ausübt.
Als Bonpland und ich in den Provinzen Neuandalusien, Nueva Barcelona und Caracas uns aufhielten, war die Mei- nung allgemein verbreitet, daß die am weitesten nach Osten gelegenen Striche dieser Küsten den verheerenden Wirkungen der Erdbeben am meisten ausgesetzt seien. Die Einwohner von Cumana scheuten das Thal von Caracas wegen des
1 Am 30. November 1744 und 3. September 1750.
einzelnen, ſcheut der Menſch das Licht, das ihm die wahren Urſachen des Geſchehenen zeigte und die begleitenden Um- ſtände erkennen ließe. Ich glaubte, in dieſem Werke nieder- legen zu ſollen, was ich an zuverläſſiger Kunde über die Erd- ſtöße zuſammengebracht, die am 26. März 1812 die Stadt Caracas zerſtört und in der Provinz Venezuela faſt in einem Augenblick über zwanzigtauſend Menſchen das Leben gekoſtet haben. Die Verbindungen, die ich fortwährend mit Leuten aller Stände unterhalten, ſetzten mich in den Stand, die Be- richte mehrerer Augenzeugen zu vergleichen und Fragen über Punkte an ſie zu richten, an deren Aufklärung der Wiſſen- ſchaft vorzugsweiſe gelegen iſt. Als Geſchichtſchreiber der Natur hat der Reiſende die Zeit des Eintrittes großer Kata- ſtrophen feſtzuſtellen, ihren Zuſammenhang und ihre gegen- ſeitigen Verhältniſſe zu unterſuchen, und im raſchen Ablauf der Zeit, im ununterbrochenen Zuge ſich drängender Ver- wandlungen feſte Punkte zu bezeichnen, mit denen einſt andere Kataſtrophen vergleichen werden mögen. In der unermeßlichen Zeit, welche die Geſchichte der Natur umfaßt, rücken alle Zeit- punkte des Geſchehenen nahe zuſammen; die verfloſſenen Jahre erſcheinen wie Augenblicke, und wenn die phyſiſche Beſchrei- bung eines Landes von keinem allgemeinen und überhaupt von keinem großen Intereſſe iſt, ſo hat ſie zum wenigſten den Vorteil, daß ſie nicht veraltet. Betrachtungen dieſer Art haben La Condamine bewogen, die denkwürdigen Ausbrüche des Vulkanes Cotopaxi,1 die lange nach ſeinem Abgange von Quito ſtattgefunden, in ſeiner „Reiſe zum Aequator“ zu beſchreiben. Ich glaube dem Beiſpiel des großen Gelehrten deſto unbe- ſorgter vor irgend welchem Vorwurf folgen zu dürfen, da die Ereigniſſe, die ich zu beſchreiben gedenke, für die Theorie von den vulkaniſchen Reaktionen ſprechen, das heißt für den Einfluß, den ein Syſtem von Vulkanen auf den weiten Landſtrich umher ausübt.
Als Bonpland und ich in den Provinzen Neuandaluſien, Nueva Barcelona und Caracas uns aufhielten, war die Mei- nung allgemein verbreitet, daß die am weiteſten nach Oſten gelegenen Striche dieſer Küſten den verheerenden Wirkungen der Erdbeben am meiſten ausgeſetzt ſeien. Die Einwohner von Cumana ſcheuten das Thal von Caracas wegen des
1 Am 30. November 1744 und 3. September 1750.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0157"n="149"/>
einzelnen, ſcheut der Menſch das Licht, das ihm die wahren<lb/>
Urſachen des Geſchehenen zeigte und die begleitenden Um-<lb/>ſtände erkennen ließe. Ich glaubte, in dieſem Werke nieder-<lb/>
legen zu ſollen, was ich an zuverläſſiger Kunde über die Erd-<lb/>ſtöße zuſammengebracht, die am 26. März 1812 die Stadt<lb/>
Caracas zerſtört und in der Provinz Venezuela faſt in <hirendition="#g">einem</hi><lb/>
Augenblick über zwanzigtauſend Menſchen das Leben gekoſtet<lb/>
haben. Die Verbindungen, die ich fortwährend mit Leuten<lb/>
aller Stände unterhalten, ſetzten mich in den Stand, die Be-<lb/>
richte mehrerer Augenzeugen zu vergleichen und Fragen über<lb/>
Punkte an ſie zu richten, an deren Aufklärung der Wiſſen-<lb/>ſchaft vorzugsweiſe gelegen iſt. Als Geſchichtſchreiber der<lb/>
Natur hat der Reiſende die Zeit des Eintrittes großer Kata-<lb/>ſtrophen feſtzuſtellen, ihren Zuſammenhang und ihre gegen-<lb/>ſeitigen Verhältniſſe zu unterſuchen, und im raſchen Ablauf<lb/>
der Zeit, im ununterbrochenen Zuge ſich drängender Ver-<lb/>
wandlungen feſte Punkte zu bezeichnen, mit denen einſt andere<lb/>
Kataſtrophen vergleichen werden mögen. In der unermeßlichen<lb/>
Zeit, welche die Geſchichte der Natur umfaßt, rücken alle Zeit-<lb/>
punkte des Geſchehenen nahe zuſammen; die verfloſſenen Jahre<lb/>
erſcheinen wie Augenblicke, und wenn die phyſiſche Beſchrei-<lb/>
bung eines Landes von keinem allgemeinen und überhaupt<lb/>
von keinem großen Intereſſe iſt, ſo hat ſie zum wenigſten den<lb/>
Vorteil, daß ſie nicht veraltet. Betrachtungen dieſer Art haben<lb/>
La Condamine bewogen, die denkwürdigen Ausbrüche des<lb/>
Vulkanes Cotopaxi,<noteplace="foot"n="1">Am 30. November 1744 und 3. September 1750.</note> die lange nach ſeinem Abgange von Quito<lb/>ſtattgefunden, in ſeiner „Reiſe zum Aequator“ zu beſchreiben.<lb/>
Ich glaube dem Beiſpiel des großen Gelehrten deſto unbe-<lb/>ſorgter vor irgend welchem Vorwurf folgen zu dürfen, da die<lb/>
Ereigniſſe, die ich zu beſchreiben gedenke, für die Theorie von<lb/>
den <hirendition="#g">vulkaniſchen Reaktionen</hi>ſprechen, das heißt für den<lb/>
Einfluß, den ein <hirendition="#g">Syſtem von Vulkanen</hi> auf den weiten<lb/>
Landſtrich umher ausübt.</p><lb/><p>Als Bonpland und ich in den Provinzen Neuandaluſien,<lb/>
Nueva Barcelona und Caracas uns aufhielten, war die Mei-<lb/>
nung allgemein verbreitet, daß die am weiteſten nach Oſten<lb/>
gelegenen Striche dieſer Küſten den verheerenden Wirkungen<lb/>
der Erdbeben am meiſten ausgeſetzt ſeien. Die Einwohner<lb/>
von Cumana ſcheuten das Thal von Caracas wegen des<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[149/0157]
einzelnen, ſcheut der Menſch das Licht, das ihm die wahren
Urſachen des Geſchehenen zeigte und die begleitenden Um-
ſtände erkennen ließe. Ich glaubte, in dieſem Werke nieder-
legen zu ſollen, was ich an zuverläſſiger Kunde über die Erd-
ſtöße zuſammengebracht, die am 26. März 1812 die Stadt
Caracas zerſtört und in der Provinz Venezuela faſt in einem
Augenblick über zwanzigtauſend Menſchen das Leben gekoſtet
haben. Die Verbindungen, die ich fortwährend mit Leuten
aller Stände unterhalten, ſetzten mich in den Stand, die Be-
richte mehrerer Augenzeugen zu vergleichen und Fragen über
Punkte an ſie zu richten, an deren Aufklärung der Wiſſen-
ſchaft vorzugsweiſe gelegen iſt. Als Geſchichtſchreiber der
Natur hat der Reiſende die Zeit des Eintrittes großer Kata-
ſtrophen feſtzuſtellen, ihren Zuſammenhang und ihre gegen-
ſeitigen Verhältniſſe zu unterſuchen, und im raſchen Ablauf
der Zeit, im ununterbrochenen Zuge ſich drängender Ver-
wandlungen feſte Punkte zu bezeichnen, mit denen einſt andere
Kataſtrophen vergleichen werden mögen. In der unermeßlichen
Zeit, welche die Geſchichte der Natur umfaßt, rücken alle Zeit-
punkte des Geſchehenen nahe zuſammen; die verfloſſenen Jahre
erſcheinen wie Augenblicke, und wenn die phyſiſche Beſchrei-
bung eines Landes von keinem allgemeinen und überhaupt
von keinem großen Intereſſe iſt, ſo hat ſie zum wenigſten den
Vorteil, daß ſie nicht veraltet. Betrachtungen dieſer Art haben
La Condamine bewogen, die denkwürdigen Ausbrüche des
Vulkanes Cotopaxi, 1 die lange nach ſeinem Abgange von Quito
ſtattgefunden, in ſeiner „Reiſe zum Aequator“ zu beſchreiben.
Ich glaube dem Beiſpiel des großen Gelehrten deſto unbe-
ſorgter vor irgend welchem Vorwurf folgen zu dürfen, da die
Ereigniſſe, die ich zu beſchreiben gedenke, für die Theorie von
den vulkaniſchen Reaktionen ſprechen, das heißt für den
Einfluß, den ein Syſtem von Vulkanen auf den weiten
Landſtrich umher ausübt.
Als Bonpland und ich in den Provinzen Neuandaluſien,
Nueva Barcelona und Caracas uns aufhielten, war die Mei-
nung allgemein verbreitet, daß die am weiteſten nach Oſten
gelegenen Striche dieſer Küſten den verheerenden Wirkungen
der Erdbeben am meiſten ausgeſetzt ſeien. Die Einwohner
von Cumana ſcheuten das Thal von Caracas wegen des
1 Am 30. November 1744 und 3. September 1750.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/157>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.