Auf dem Gipfel hatten wir, freilich nur einige Minuten, ganz klaren Himmel. Wir genossen einer ungemein weiten Aussicht; wir sahen zugleich nach Norden über die See weg, nach Süden in das fruchtbare Thal von Caracas hinab. Der Barometer stand auf 550 mm, die Temperatur der Luft war 13,7°. Wir waren in 2630 m Meereshöhe. Man überblickt eine Meeresstrecke von 172 km Halbmesser. Wem beim Blick in große Tiefen schwindlig wird, muß mitten auf dem kleinen Plateau bleiben. Durch seine Höhe ist der Berg eben nicht ausgezeichnet; ist er doch gegen 195 m niedriger als der Canigou in den Pyrenäen; aber er unterscheidet sich von allen Bergen, die ich bereist, durch den ungeheuren Absturz gegen die See zu. Die Küste bildet nur einen schmalen Saum, und blickt man von der Spitze der Pyramide auf die Häuser von Caravalleda hinab, so meint man infolge einer öfter er- wähnten optischen Täuschung, die Felswand sei beinahe senk- recht. Nach einer genauen Berechnung schien mir der Neigungs- winkel 53° 28'; am Pik von Tenerifa beträgt die Neigung im Durchschnitt kaum 12° 30'. Ein 1950 bis 2270 m hoher Absturz wie an der Silla von Caracas ist eine weit seltenere Erscheinung, als man glaubt, wenn man in den Bergen reist, ohne ihre Höhen, ihre Massen und ihre Abhänge zu messen. Seit man sich in mehreren Ländern Europas von neuem mit Versuchen über den Fall der Körper und ihre Abweichung gegen Südost beschäftigt, hat man in den Schweizer Alpen sich überall vergeblich nach einer senkrechten, 490 m hohen Felswand umgesehen. Der Neigungswinkel des Montblanc gegen die Allee blanche beträgt keine 45°, obgleich man in den meisten geologischen Werken liest, der Montblanc falle gegen Süd senkrecht ab.
Auf der Silla von Caracas ist der ungeheure nördliche Abhang, trotz seiner großen Steilheit, zum Teil bewachsen. Befaria- und Andromedabüsche hängen an der Felswand. Das kleine südwärts gelegene Thal zwischen den Gipfeln zieht sich der Meeresküste zu fort: die Alpenpflanzen füllen diese Einsenkung aus, ragen über den Kamm des Berges empor und folgen den Krümmungen der Schlucht. Man meint, unter diesen frischen Schatten müsse Wasser fließen, und die Ver- teilung der Gewächse, die Gruppierung so vieler unbeweglicher Gegenstände bringt Leben und Bewegung in die Landschaft.
Es war jetzt sieben Monate, daß wir auf dem Gipfel des Vulkans von Tenerifa gestanden hatten, wo man eine
Auf dem Gipfel hatten wir, freilich nur einige Minuten, ganz klaren Himmel. Wir genoſſen einer ungemein weiten Ausſicht; wir ſahen zugleich nach Norden über die See weg, nach Süden in das fruchtbare Thal von Caracas hinab. Der Barometer ſtand auf 550 mm, die Temperatur der Luft war 13,7°. Wir waren in 2630 m Meereshöhe. Man überblickt eine Meeresſtrecke von 172 km Halbmeſſer. Wem beim Blick in große Tiefen ſchwindlig wird, muß mitten auf dem kleinen Plateau bleiben. Durch ſeine Höhe iſt der Berg eben nicht ausgezeichnet; iſt er doch gegen 195 m niedriger als der Canigou in den Pyrenäen; aber er unterſcheidet ſich von allen Bergen, die ich bereiſt, durch den ungeheuren Abſturz gegen die See zu. Die Küſte bildet nur einen ſchmalen Saum, und blickt man von der Spitze der Pyramide auf die Häuſer von Caravalleda hinab, ſo meint man infolge einer öfter er- wähnten optiſchen Täuſchung, die Felswand ſei beinahe ſenk- recht. Nach einer genauen Berechnung ſchien mir der Neigungs- winkel 53° 28′; am Pik von Tenerifa beträgt die Neigung im Durchſchnitt kaum 12° 30′. Ein 1950 bis 2270 m hoher Abſturz wie an der Silla von Caracas iſt eine weit ſeltenere Erſcheinung, als man glaubt, wenn man in den Bergen reiſt, ohne ihre Höhen, ihre Maſſen und ihre Abhänge zu meſſen. Seit man ſich in mehreren Ländern Europas von neuem mit Verſuchen über den Fall der Körper und ihre Abweichung gegen Südoſt beſchäftigt, hat man in den Schweizer Alpen ſich überall vergeblich nach einer ſenkrechten, 490 m hohen Felswand umgeſehen. Der Neigungswinkel des Montblanc gegen die Allée blanche beträgt keine 45°, obgleich man in den meiſten geologiſchen Werken lieſt, der Montblanc falle gegen Süd ſenkrecht ab.
Auf der Silla von Caracas iſt der ungeheure nördliche Abhang, trotz ſeiner großen Steilheit, zum Teil bewachſen. Befaria- und Andromedabüſche hängen an der Felswand. Das kleine ſüdwärts gelegene Thal zwiſchen den Gipfeln zieht ſich der Meeresküſte zu fort: die Alpenpflanzen füllen dieſe Einſenkung aus, ragen über den Kamm des Berges empor und folgen den Krümmungen der Schlucht. Man meint, unter dieſen friſchen Schatten müſſe Waſſer fließen, und die Ver- teilung der Gewächſe, die Gruppierung ſo vieler unbeweglicher Gegenſtände bringt Leben und Bewegung in die Landſchaft.
Es war jetzt ſieben Monate, daß wir auf dem Gipfel des Vulkans von Tenerifa geſtanden hatten, wo man eine
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Auf dem Gipfel hatten wir, freilich nur einige Minuten,
ganz klaren Himmel. Wir genoſſen einer ungemein weiten
Ausſicht; wir ſahen zugleich nach Norden über die See weg,
nach Süden in das fruchtbare Thal von Caracas hinab. Der
Barometer ſtand auf 550 mm, die Temperatur der Luft war
13,7°. Wir waren in 2630 m Meereshöhe. Man überblickt
eine Meeresſtrecke von 172 km Halbmeſſer. Wem beim Blick
in große Tiefen ſchwindlig wird, muß mitten auf dem kleinen
Plateau bleiben. Durch ſeine Höhe iſt der Berg eben nicht
ausgezeichnet; iſt er doch gegen 195 m niedriger als der
Canigou in den Pyrenäen; aber er unterſcheidet ſich von allen
Bergen, die ich bereiſt, durch den ungeheuren Abſturz gegen
die See zu. Die Küſte bildet nur einen ſchmalen Saum,
und blickt man von der Spitze der Pyramide auf die Häuſer
von Caravalleda hinab, ſo meint man infolge einer öfter er-
wähnten optiſchen Täuſchung, die Felswand ſei beinahe ſenk-
recht. Nach einer genauen Berechnung ſchien mir der Neigungs-
winkel 53° 28′; am Pik von Tenerifa beträgt die Neigung
im Durchſchnitt kaum 12° 30′. Ein 1950 bis 2270 m hoher
Abſturz wie an der Silla von Caracas iſt eine weit ſeltenere
Erſcheinung, als man glaubt, wenn man in den Bergen reiſt,
ohne ihre Höhen, ihre Maſſen und ihre Abhänge zu meſſen.
Seit man ſich in mehreren Ländern Europas von neuem mit
Verſuchen über den Fall der Körper und ihre Abweichung
gegen Südoſt beſchäftigt, hat man in den Schweizer Alpen
ſich überall vergeblich nach einer ſenkrechten, 490 m hohen
Felswand umgeſehen. Der Neigungswinkel des Montblanc
gegen die Allée blanche beträgt keine 45°, obgleich man in
den meiſten geologiſchen Werken lieſt, der Montblanc falle
gegen Süd ſenkrecht ab.
Auf der Silla von Caracas iſt der ungeheure nördliche
Abhang, trotz ſeiner großen Steilheit, zum Teil bewachſen.
Befaria- und Andromedabüſche hängen an der Felswand.
Das kleine ſüdwärts gelegene Thal zwiſchen den Gipfeln
zieht ſich der Meeresküſte zu fort: die Alpenpflanzen füllen dieſe
Einſenkung aus, ragen über den Kamm des Berges empor
und folgen den Krümmungen der Schlucht. Man meint, unter
dieſen friſchen Schatten müſſe Waſſer fließen, und die Ver-
teilung der Gewächſe, die Gruppierung ſo vieler unbeweglicher
Gegenſtände bringt Leben und Bewegung in die Landſchaft.
Es war jetzt ſieben Monate, daß wir auf dem Gipfel
des Vulkans von Tenerifa geſtanden hatten, wo man eine
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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/147>, abgerufen am 16.02.2025.
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