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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859.

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überall, wo eine große Umwälzung in den Vorstellungen be-
vorsteht, zwei Menschenklassen, man könnte sagen zwei streng
geschiedene Generationen. Die eine, nicht mehr sehr zahlreiche,
hält fest an den alten Bräuchen und hat die alte Sitteneinfalt
und Mäßigung in Wünschen und Begierden bewahrt. Sie
lebt nur in der Vorzeit; in ihrer Vorstellung ist Amerika
Eigentum ihrer Voreltern, die es erobert haben. Sie ver-
abscheut die sogenannte Aufklärung des Jahrhunderts und
hegt sorgfältig, wie einen Teil ihres Erbgutes, die überlieferten
Vorurteile. Die andere lebt weniger in der Gegenwart als
in der Zukunft und hat eine nicht selten leichtfertige Vorliebe
für neue Sitten und Ideen. Kommt zu dieser Neigung der
Trieb, sich gründlich zu bilden, wird sie von einem kräftigen,
hellblickenden Geiste gezügelt und gelenkt, so wird sie in ihren
Wirkungen der Gesellschaft ersprießlich. Ich habe in Caracas
mehrere durch wissenschaftlichen Sinn, angenehme Sitten und
großartige Gesinnung gleich ausgezeichnete Männer kennen
gelernt, die dieser zweiten Generation angehörten; aber auch
andere, die auf alles Schöne und Achtungswürdige im spani-
schen Charakter, in der Litteratur und Kunst dieses Volkes
herabsahen und damit ihre eigene Nationalität einbüßten,
ohne im Verkehr mit den Fremden richtige Begriffe über die
wahren Grundlagen des öffentlichen Wohles und der gesell-
schaftlichen Ordnung einzutauschen.

Da seit der Regierung Karls V. der Korporationsgeist
und der Munizipalhaß aus dem Mutterlande in die Kolonieen
übergegangen sind, so findet man in Cumana und anderen
Handelsstätten von Terra Firma Gefallen daran, die Adels-
ansprüche der vornehmsten Familien in Caracas, der sogenannten
Mantuanos, mit Uebertreibung zu schildern. Wie sich diese
Ansprüche früher geäußert, weiß ich nicht; es schien mir aber,
als ob die fortschreitende Bildung und die in den Sitten sich
vollziehende Umwandlung nach und nach und fast durchgängig
den gesellschaftlichen Unterschieden im Verkehr unter Weißen
alles Verletzende benommen hätten. In allen Kolonien gibt
es zweierlei Adel. Der eine besteht aus Kreolen, deren Vor-
fahren in jüngster Zeit bedeutende Aemter in Amerika be-
kleidet haben; er gründet seine Vorrechte zum Teil auf das
Ansehen, in dem er im Mutterlande steht; er glaubt sie auch
über dem Meere festhalten zu können, gleichviel zu welcher
Zeit er sich in den Kolonieen niedergelassen. Der andere Adel
haftet mehr am amerikanischen Boden; seine Glieder sind

überall, wo eine große Umwälzung in den Vorſtellungen be-
vorſteht, zwei Menſchenklaſſen, man könnte ſagen zwei ſtreng
geſchiedene Generationen. Die eine, nicht mehr ſehr zahlreiche,
hält feſt an den alten Bräuchen und hat die alte Sitteneinfalt
und Mäßigung in Wünſchen und Begierden bewahrt. Sie
lebt nur in der Vorzeit; in ihrer Vorſtellung iſt Amerika
Eigentum ihrer Voreltern, die es erobert haben. Sie ver-
abſcheut die ſogenannte Aufklärung des Jahrhunderts und
hegt ſorgfältig, wie einen Teil ihres Erbgutes, die überlieferten
Vorurteile. Die andere lebt weniger in der Gegenwart als
in der Zukunft und hat eine nicht ſelten leichtfertige Vorliebe
für neue Sitten und Ideen. Kommt zu dieſer Neigung der
Trieb, ſich gründlich zu bilden, wird ſie von einem kräftigen,
hellblickenden Geiſte gezügelt und gelenkt, ſo wird ſie in ihren
Wirkungen der Geſellſchaft erſprießlich. Ich habe in Caracas
mehrere durch wiſſenſchaftlichen Sinn, angenehme Sitten und
großartige Geſinnung gleich ausgezeichnete Männer kennen
gelernt, die dieſer zweiten Generation angehörten; aber auch
andere, die auf alles Schöne und Achtungswürdige im ſpani-
ſchen Charakter, in der Litteratur und Kunſt dieſes Volkes
herabſahen und damit ihre eigene Nationalität einbüßten,
ohne im Verkehr mit den Fremden richtige Begriffe über die
wahren Grundlagen des öffentlichen Wohles und der geſell-
ſchaftlichen Ordnung einzutauſchen.

Da ſeit der Regierung Karls V. der Korporationsgeiſt
und der Munizipalhaß aus dem Mutterlande in die Kolonieen
übergegangen ſind, ſo findet man in Cumana und anderen
Handelsſtätten von Terra Firma Gefallen daran, die Adels-
anſprüche der vornehmſten Familien in Caracas, der ſogenannten
Mantuanos, mit Uebertreibung zu ſchildern. Wie ſich dieſe
Anſprüche früher geäußert, weiß ich nicht; es ſchien mir aber,
als ob die fortſchreitende Bildung und die in den Sitten ſich
vollziehende Umwandlung nach und nach und faſt durchgängig
den geſellſchaftlichen Unterſchieden im Verkehr unter Weißen
alles Verletzende benommen hätten. In allen Kolonien gibt
es zweierlei Adel. Der eine beſteht aus Kreolen, deren Vor-
fahren in jüngſter Zeit bedeutende Aemter in Amerika be-
kleidet haben; er gründet ſeine Vorrechte zum Teil auf das
Anſehen, in dem er im Mutterlande ſteht; er glaubt ſie auch
über dem Meere feſthalten zu können, gleichviel zu welcher
Zeit er ſich in den Kolonieen niedergelaſſen. Der andere Adel
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[122/0130] überall, wo eine große Umwälzung in den Vorſtellungen be- vorſteht, zwei Menſchenklaſſen, man könnte ſagen zwei ſtreng geſchiedene Generationen. Die eine, nicht mehr ſehr zahlreiche, hält feſt an den alten Bräuchen und hat die alte Sitteneinfalt und Mäßigung in Wünſchen und Begierden bewahrt. Sie lebt nur in der Vorzeit; in ihrer Vorſtellung iſt Amerika Eigentum ihrer Voreltern, die es erobert haben. Sie ver- abſcheut die ſogenannte Aufklärung des Jahrhunderts und hegt ſorgfältig, wie einen Teil ihres Erbgutes, die überlieferten Vorurteile. Die andere lebt weniger in der Gegenwart als in der Zukunft und hat eine nicht ſelten leichtfertige Vorliebe für neue Sitten und Ideen. Kommt zu dieſer Neigung der Trieb, ſich gründlich zu bilden, wird ſie von einem kräftigen, hellblickenden Geiſte gezügelt und gelenkt, ſo wird ſie in ihren Wirkungen der Geſellſchaft erſprießlich. Ich habe in Caracas mehrere durch wiſſenſchaftlichen Sinn, angenehme Sitten und großartige Geſinnung gleich ausgezeichnete Männer kennen gelernt, die dieſer zweiten Generation angehörten; aber auch andere, die auf alles Schöne und Achtungswürdige im ſpani- ſchen Charakter, in der Litteratur und Kunſt dieſes Volkes herabſahen und damit ihre eigene Nationalität einbüßten, ohne im Verkehr mit den Fremden richtige Begriffe über die wahren Grundlagen des öffentlichen Wohles und der geſell- ſchaftlichen Ordnung einzutauſchen. Da ſeit der Regierung Karls V. der Korporationsgeiſt und der Munizipalhaß aus dem Mutterlande in die Kolonieen übergegangen ſind, ſo findet man in Cumana und anderen Handelsſtätten von Terra Firma Gefallen daran, die Adels- anſprüche der vornehmſten Familien in Caracas, der ſogenannten Mantuanos, mit Uebertreibung zu ſchildern. Wie ſich dieſe Anſprüche früher geäußert, weiß ich nicht; es ſchien mir aber, als ob die fortſchreitende Bildung und die in den Sitten ſich vollziehende Umwandlung nach und nach und faſt durchgängig den geſellſchaftlichen Unterſchieden im Verkehr unter Weißen alles Verletzende benommen hätten. In allen Kolonien gibt es zweierlei Adel. Der eine beſteht aus Kreolen, deren Vor- fahren in jüngſter Zeit bedeutende Aemter in Amerika be- kleidet haben; er gründet ſeine Vorrechte zum Teil auf das Anſehen, in dem er im Mutterlande ſteht; er glaubt ſie auch über dem Meere feſthalten zu können, gleichviel zu welcher Zeit er ſich in den Kolonieen niedergelaſſen. Der andere Adel haftet mehr am amerikaniſchen Boden; ſeine Glieder ſind

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Bd. 2. Übers. v. Hermann Hauff. Stuttgart, 1859, S. 122. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial02_1859/130>, abgerufen am 21.11.2024.