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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

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Zahl der Familien ist auf hundet gestiegen, und der Missionär
machte gegen uns die Bemerkung, daß der Brauch, die jungen
Leute im 13. oder 14. Jahre zu verheiraten, zu dieser raschen
Zunahme der Bevölkerung viel beitrage. Er zog in Abrede,
daß die Chaymasindianer so früh altern, als die Europäer
gewöhnlich glauben. Das Regierungswesen in diesen india-
nischen Gemeinden ist übrigens sehr verwickelt; sie haben ihren
Gobernador, ihre Alguazils Majors und ihre Milizoffiziere,
und diese Beamten sind lauter kupferfarbige Eingeborene.
Die Schützencompagnie hat ihre Fahnen und übt sich mit
Bogen und Pfeilen im Zielschießen; es ist die Bürgerwehr des
Landes. Solch kriegerische Anstalten unter einem rein mön-
chischen Regiment kamen uns sehr seltsam vor.

In der Nacht vom 5. September und am anderen Morgen
lag ein dicker Nebel, und doch waren wir nur 195 m über
dem Meeresspiegel. Bevor wir aufbrachen, maß ich geometrisch
den großen Kalkberg, der 1560 m südlich von San Fernando
liegt und nach Norden steil abfällt. Sein Gipfel ist nur
419 m höher als der große Dorfplatz, aber kahle Felsmassen,
die sich aus der dichten Pflanzendecke erheben, geben ihm
etwas sehr Großartiges.

Der Weg von San Fernando nach Cumana führt über
kleine Pflanzungen durch ein offenes feuchtes Thal. Wir
wateten durch viele Bäche. Im Schatten stand der Thermo-
meter nicht über 30°, wir waren aber unmittelbar den Sonnen-
strahlen ausgesetzt, weil die Bambu am Wege nur wenig
Schutz gewähren und wir hatten stark von der Hitze zu leiden.
Wir kamen durch das Dorf Arenas, das von Indianern des-
selben Stammes wie die von San Fernando bewohnt ist;
aber Arenas ist keine Mission mehr; die Eingeborenen stehen
unter einem Pfarrer und sind nicht so nackt und kultivierter
als jene. Ihre Kirche ist im Lande wegen einiger rohen
Malereien bekannt; auf einem schmalen Fries sind Gürtel-
tiere, Kaimane, Jaguare und andere Tiere der Neuen Welt
abgebildet.

In diesem Dorfe wohnt ein Landmann Namens Francisco
Lozano, der eine physiologische Merkwürdigkeit ist, und der
Fall macht Eindruck auf die Einbildungskraft, wenn er auch
den bekannten Gesetzen der organischen Natur vollkommen
entspricht. Der Mann hat einen Sohn mit seiner eigenen
Milch aufgezogen. Die Mutter war krank geworden, da
nahm der Vater das Kind, um es zu beruhigen, zu sich ins

Zahl der Familien iſt auf hundet geſtiegen, und der Miſſionär
machte gegen uns die Bemerkung, daß der Brauch, die jungen
Leute im 13. oder 14. Jahre zu verheiraten, zu dieſer raſchen
Zunahme der Bevölkerung viel beitrage. Er zog in Abrede,
daß die Chaymasindianer ſo früh altern, als die Europäer
gewöhnlich glauben. Das Regierungsweſen in dieſen india-
niſchen Gemeinden iſt übrigens ſehr verwickelt; ſie haben ihren
Gobernador, ihre Alguazils Majors und ihre Milizoffiziere,
und dieſe Beamten ſind lauter kupferfarbige Eingeborene.
Die Schützencompagnie hat ihre Fahnen und übt ſich mit
Bogen und Pfeilen im Zielſchießen; es iſt die Bürgerwehr des
Landes. Solch kriegeriſche Anſtalten unter einem rein mön-
chiſchen Regiment kamen uns ſehr ſeltſam vor.

In der Nacht vom 5. September und am anderen Morgen
lag ein dicker Nebel, und doch waren wir nur 195 m über
dem Meeresſpiegel. Bevor wir aufbrachen, maß ich geometriſch
den großen Kalkberg, der 1560 m ſüdlich von San Fernando
liegt und nach Norden ſteil abfällt. Sein Gipfel iſt nur
419 m höher als der große Dorfplatz, aber kahle Felsmaſſen,
die ſich aus der dichten Pflanzendecke erheben, geben ihm
etwas ſehr Großartiges.

Der Weg von San Fernando nach Cumana führt über
kleine Pflanzungen durch ein offenes feuchtes Thal. Wir
wateten durch viele Bäche. Im Schatten ſtand der Thermo-
meter nicht über 30°, wir waren aber unmittelbar den Sonnen-
ſtrahlen ausgeſetzt, weil die Bambu am Wege nur wenig
Schutz gewähren und wir hatten ſtark von der Hitze zu leiden.
Wir kamen durch das Dorf Arenas, das von Indianern des-
ſelben Stammes wie die von San Fernando bewohnt iſt;
aber Arenas iſt keine Miſſion mehr; die Eingeborenen ſtehen
unter einem Pfarrer und ſind nicht ſo nackt und kultivierter
als jene. Ihre Kirche iſt im Lande wegen einiger rohen
Malereien bekannt; auf einem ſchmalen Fries ſind Gürtel-
tiere, Kaimane, Jaguare und andere Tiere der Neuen Welt
abgebildet.

In dieſem Dorfe wohnt ein Landmann Namens Francisco
Lozano, der eine phyſiologiſche Merkwürdigkeit iſt, und der
Fall macht Eindruck auf die Einbildungskraft, wenn er auch
den bekannten Geſetzen der organiſchen Natur vollkommen
entſpricht. Der Mann hat einen Sohn mit ſeiner eigenen
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[230/0246] Zahl der Familien iſt auf hundet geſtiegen, und der Miſſionär machte gegen uns die Bemerkung, daß der Brauch, die jungen Leute im 13. oder 14. Jahre zu verheiraten, zu dieſer raſchen Zunahme der Bevölkerung viel beitrage. Er zog in Abrede, daß die Chaymasindianer ſo früh altern, als die Europäer gewöhnlich glauben. Das Regierungsweſen in dieſen india- niſchen Gemeinden iſt übrigens ſehr verwickelt; ſie haben ihren Gobernador, ihre Alguazils Majors und ihre Milizoffiziere, und dieſe Beamten ſind lauter kupferfarbige Eingeborene. Die Schützencompagnie hat ihre Fahnen und übt ſich mit Bogen und Pfeilen im Zielſchießen; es iſt die Bürgerwehr des Landes. Solch kriegeriſche Anſtalten unter einem rein mön- chiſchen Regiment kamen uns ſehr ſeltſam vor. In der Nacht vom 5. September und am anderen Morgen lag ein dicker Nebel, und doch waren wir nur 195 m über dem Meeresſpiegel. Bevor wir aufbrachen, maß ich geometriſch den großen Kalkberg, der 1560 m ſüdlich von San Fernando liegt und nach Norden ſteil abfällt. Sein Gipfel iſt nur 419 m höher als der große Dorfplatz, aber kahle Felsmaſſen, die ſich aus der dichten Pflanzendecke erheben, geben ihm etwas ſehr Großartiges. Der Weg von San Fernando nach Cumana führt über kleine Pflanzungen durch ein offenes feuchtes Thal. Wir wateten durch viele Bäche. Im Schatten ſtand der Thermo- meter nicht über 30°, wir waren aber unmittelbar den Sonnen- ſtrahlen ausgeſetzt, weil die Bambu am Wege nur wenig Schutz gewähren und wir hatten ſtark von der Hitze zu leiden. Wir kamen durch das Dorf Arenas, das von Indianern des- ſelben Stammes wie die von San Fernando bewohnt iſt; aber Arenas iſt keine Miſſion mehr; die Eingeborenen ſtehen unter einem Pfarrer und ſind nicht ſo nackt und kultivierter als jene. Ihre Kirche iſt im Lande wegen einiger rohen Malereien bekannt; auf einem ſchmalen Fries ſind Gürtel- tiere, Kaimane, Jaguare und andere Tiere der Neuen Welt abgebildet. In dieſem Dorfe wohnt ein Landmann Namens Francisco Lozano, der eine phyſiologiſche Merkwürdigkeit iſt, und der Fall macht Eindruck auf die Einbildungskraft, wenn er auch den bekannten Geſetzen der organiſchen Natur vollkommen entſpricht. Der Mann hat einen Sohn mit ſeiner eigenen Milch aufgezogen. Die Mutter war krank geworden, da nahm der Vater das Kind, um es zu beruhigen, zu ſich ins

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 230. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/246>, abgerufen am 22.11.2024.