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Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859.

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Der neue Himmel, das ganz veränderte Klima, die phy-
sische Beschaffenheit des Landes wirken weit stärker auf die
gesellschaftlichen Zustände in den Kolonieen ein, als die gänz-
liche Trennung vom Mutterlande. Die Schiffahrt hat in
neuerer Zeit solche Fortschritte gemacht, daß die Mündungen
des Orinoko und Rio de la Plata näher bei Spanien zu
liegen scheinen, als einst der Phasis und Tartessus von den
griechischen und phönizischen Küsten. Man kann auch die
Bemerkung machen, daß sich in gleich weit von Europa ent-
fernten Ländern Sitten und Ueberlieferungen desselben im
gemäßigten Erdstrich und auf dem Rücken der Gebirge unter
dem Aequator mehr erhalten haben als in den Tiefländern
der heißen Zone. Die Aehnlichkeit der Naturumgebung trägt
in gewissem Grade dazu bei, innigere Beziehungen zwischen den
Kolonisten und dem Mutterlande aufrecht zu erhalten. Dieser
Einfluß physischer Ursachen auf die Zustände jugendlicher ge-
sellschaftlicher Vereine tritt besonders auffallend hervor, wenn
es sich von Gliedern desselben Volksstammes handelt, die sich
noch nicht lange getrennt haben. Durchreist man die Neue
Welt, so meint man überall da, wo das Klima den Anbau
des Getreides gestattet, mehr Ueberlieferungen, einem leben-
digeren Andenken an das Mutterland zu begegnen. In dieser
Beziehung kommen Pennsylvanien, Neumexiko und Chile mit
den hochgelegenen Plateaus von Quito und Neuspanien über-
ein, die mit Eichen und Fichten bewachsen sind.

Bei den Alten waren die Geschichte, die religiösen Vor-
stellungen und die physische Beschaffenheit des Landes durch
unauflösliche Bande verknüpft. Um die Landschaften und
die alten bürgerlichen Stürme des Mutterlandes zu vergessen,
hätte der Ansiedler auch dem von seinen Voreltern über-
lieferten Götterglauben entsagen müssen. Bei den neueren
Völkern hat die Religion, so zu sagen, keine Lokalfarbe mehr.
Das Christentum hat den Kreis der Vorstellungen erweitert,
es hat alle Völker darauf hingewiesen, daß sie Glieder einer
Familie sind, aber eben damit hat es das Nationalgefühl
geschwächt; es hat in beiden Welten die uralten Ueber-
lieferungen des Morgenlandes verbreitet, neben denen, die
ihm eigentümlich angehören. Völker von ganz verschiedener
Herkunft und völlig abweichender Mundart haben damit ge-
meinschaftliche Erinnerungen erhalten, und wenn durch die
Missionen in einem großen Teil des neuen Festlandes die
Grundlagen der Kultur gelegt worden sind, so haben eben

A. v. Humboldt, Reise. I. 14

Der neue Himmel, das ganz veränderte Klima, die phy-
ſiſche Beſchaffenheit des Landes wirken weit ſtärker auf die
geſellſchaftlichen Zuſtände in den Kolonieen ein, als die gänz-
liche Trennung vom Mutterlande. Die Schiffahrt hat in
neuerer Zeit ſolche Fortſchritte gemacht, daß die Mündungen
des Orinoko und Rio de la Plata näher bei Spanien zu
liegen ſcheinen, als einſt der Phaſis und Tarteſſus von den
griechiſchen und phöniziſchen Küſten. Man kann auch die
Bemerkung machen, daß ſich in gleich weit von Europa ent-
fernten Ländern Sitten und Ueberlieferungen desſelben im
gemäßigten Erdſtrich und auf dem Rücken der Gebirge unter
dem Aequator mehr erhalten haben als in den Tiefländern
der heißen Zone. Die Aehnlichkeit der Naturumgebung trägt
in gewiſſem Grade dazu bei, innigere Beziehungen zwiſchen den
Koloniſten und dem Mutterlande aufrecht zu erhalten. Dieſer
Einfluß phyſiſcher Urſachen auf die Zuſtände jugendlicher ge-
ſellſchaftlicher Vereine tritt beſonders auffallend hervor, wenn
es ſich von Gliedern desſelben Volksſtammes handelt, die ſich
noch nicht lange getrennt haben. Durchreiſt man die Neue
Welt, ſo meint man überall da, wo das Klima den Anbau
des Getreides geſtattet, mehr Ueberlieferungen, einem leben-
digeren Andenken an das Mutterland zu begegnen. In dieſer
Beziehung kommen Pennſylvanien, Neumexiko und Chile mit
den hochgelegenen Plateaus von Quito und Neuſpanien über-
ein, die mit Eichen und Fichten bewachſen ſind.

Bei den Alten waren die Geſchichte, die religiöſen Vor-
ſtellungen und die phyſiſche Beſchaffenheit des Landes durch
unauflösliche Bande verknüpft. Um die Landſchaften und
die alten bürgerlichen Stürme des Mutterlandes zu vergeſſen,
hätte der Anſiedler auch dem von ſeinen Voreltern über-
lieferten Götterglauben entſagen müſſen. Bei den neueren
Völkern hat die Religion, ſo zu ſagen, keine Lokalfarbe mehr.
Das Chriſtentum hat den Kreis der Vorſtellungen erweitert,
es hat alle Völker darauf hingewieſen, daß ſie Glieder einer
Familie ſind, aber eben damit hat es das Nationalgefühl
geſchwächt; es hat in beiden Welten die uralten Ueber-
lieferungen des Morgenlandes verbreitet, neben denen, die
ihm eigentümlich angehören. Völker von ganz verſchiedener
Herkunft und völlig abweichender Mundart haben damit ge-
meinſchaftliche Erinnerungen erhalten, und wenn durch die
Miſſionen in einem großen Teil des neuen Feſtlandes die
Grundlagen der Kultur gelegt worden ſind, ſo haben eben

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[209/0225] Der neue Himmel, das ganz veränderte Klima, die phy- ſiſche Beſchaffenheit des Landes wirken weit ſtärker auf die geſellſchaftlichen Zuſtände in den Kolonieen ein, als die gänz- liche Trennung vom Mutterlande. Die Schiffahrt hat in neuerer Zeit ſolche Fortſchritte gemacht, daß die Mündungen des Orinoko und Rio de la Plata näher bei Spanien zu liegen ſcheinen, als einſt der Phaſis und Tarteſſus von den griechiſchen und phöniziſchen Küſten. Man kann auch die Bemerkung machen, daß ſich in gleich weit von Europa ent- fernten Ländern Sitten und Ueberlieferungen desſelben im gemäßigten Erdſtrich und auf dem Rücken der Gebirge unter dem Aequator mehr erhalten haben als in den Tiefländern der heißen Zone. Die Aehnlichkeit der Naturumgebung trägt in gewiſſem Grade dazu bei, innigere Beziehungen zwiſchen den Koloniſten und dem Mutterlande aufrecht zu erhalten. Dieſer Einfluß phyſiſcher Urſachen auf die Zuſtände jugendlicher ge- ſellſchaftlicher Vereine tritt beſonders auffallend hervor, wenn es ſich von Gliedern desſelben Volksſtammes handelt, die ſich noch nicht lange getrennt haben. Durchreiſt man die Neue Welt, ſo meint man überall da, wo das Klima den Anbau des Getreides geſtattet, mehr Ueberlieferungen, einem leben- digeren Andenken an das Mutterland zu begegnen. In dieſer Beziehung kommen Pennſylvanien, Neumexiko und Chile mit den hochgelegenen Plateaus von Quito und Neuſpanien über- ein, die mit Eichen und Fichten bewachſen ſind. Bei den Alten waren die Geſchichte, die religiöſen Vor- ſtellungen und die phyſiſche Beſchaffenheit des Landes durch unauflösliche Bande verknüpft. Um die Landſchaften und die alten bürgerlichen Stürme des Mutterlandes zu vergeſſen, hätte der Anſiedler auch dem von ſeinen Voreltern über- lieferten Götterglauben entſagen müſſen. Bei den neueren Völkern hat die Religion, ſo zu ſagen, keine Lokalfarbe mehr. Das Chriſtentum hat den Kreis der Vorſtellungen erweitert, es hat alle Völker darauf hingewieſen, daß ſie Glieder einer Familie ſind, aber eben damit hat es das Nationalgefühl geſchwächt; es hat in beiden Welten die uralten Ueber- lieferungen des Morgenlandes verbreitet, neben denen, die ihm eigentümlich angehören. Völker von ganz verſchiedener Herkunft und völlig abweichender Mundart haben damit ge- meinſchaftliche Erinnerungen erhalten, und wenn durch die Miſſionen in einem großen Teil des neuen Feſtlandes die Grundlagen der Kultur gelegt worden ſind, ſo haben eben A. v. Humboldt, Reiſe. I. 14

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Zitationshilfe: Humboldt, Alexander von: Reise in die Aequinoktial-Gegenden des neuen Kontinents. Übers. v. Hermann Hauff. Bd. 1. Stuttgart, 1859, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/humboldt_aequinoktial01_1859/225>, abgerufen am 24.11.2024.